Der Brief

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Anfänglich hatte sie gar nie vorgehabt, nach draussen zu gehen. Aber einer Intuition folgend, beschloss sie dann doch noch, einen Spaziergang zu machen. An diesem schönen, sonnigen Tag, an dem die Sonne nicht zu hoch am Himmel stand und die Erde erhitzte, fand sie einen Brief. Er lag einfach so direkt auf ihrem Weg. Ein heller Fleck, der sich vom Dunkel des Grases abhob und sie hypnotisch näher zog. Dickes, schweres Papier in einem Umschlag aus dem gleichen Papier. Mit fragendem Blick sah sie ihn sich an, fand aber weder eine Adresse, noch einen Absender.

Nur was sollte sie mit einem verschlossenen Brief anstellen? Sie wusste nicht, von wem er kam und an wen zu senden er gedacht war, sonst hätte sie fraglos diesen Umschlag an einen passenden Zielort gebracht. Sie hätte sogar eine Briefmarke darauf geklebt und ihn eingeworfen. Aber der dicke, schwere Brief lag nun in ihren Händen, ohne bekannten Start und einem unbekannten Ziel. Weit und breit war niemand zu sehen.

Unter der naheliegenden Weide fand sie eine leere Parkbank, auf die sie sich erst einmal in Ruhe setzte, immer noch den Brief in der Hand abwägend. "Sag mir, wohin zu gehörst", wisperte sie ihm zu und wusste bereits genau, dass dieser Brief keine Antwort geben würde. Wenn sie den gleichen Umschlag im Fachgeschäft finden würde, könnte sie ihn dann öffnen und abschätzen, wohin er gehörte? Verletzte sie ein Briefgeheimnis, wenn kein Name ersichtlich war? Oder war es nur ein Streich? Vielleicht sollte sie ihn einfach mitnehmen. Und das tat sie auch. Vorsichtig packte sie den Umschlag in ihre Tasche.

Tage vergingen, in denen sie immer wieder darüber nachdachte, den Brief aus der Umhängetasche zog, ansah und wieder vorsichtig einpackte. Bis sie sich entschloss, ein neues, passendes Couvert zu kaufen und ihn zu öffnen. Vielleicht enthielt er wirklich nur ein leeres Blatt, vielleicht waren es Geschäftsunterlagen. Sie hatte lange darüber nachgedacht, hatte sogar die Anzeigen durchgesehen, ob jemand diesen Brief suchte.

Im Laden fand sie tatsächlich das identische Papier und trotz des hohen Preises bezahlte sie den Umschlag. Nicht weniger vorsichtig packte sie den neuen zu dem, den sie bereits seit fast einer Woche immer bei sich trug. Die Neugierde war grösser, als sie angenommen hatte. Aufgeregt beeilte sie sich, nach Hause zu kommen und das Geheimnis endlich zu lüften. Was stand in diesem geheimnisvollen Brief?

Umsichtig, damit sie den Inhalt ja nicht kaputt machte, öffnete sie den Brief endlich und sah hinein. Nur das Papier war darin zu finden, augenscheinlich mindestens zwei Seiten, vielleicht sogar drei. Wie der Umschlag selbst war es nicht weiss, sondern cremefarben. Den Farbunterschied machten die leeren Seiten des dünnen Druckerpapiers deutlich, das beschreibbereit direkt daneben lag. Eine schöne Farbe für etwas Feierliches, dachte sie. Vorsichtig zog sie die Seiten aus dem Umschlag. Die Handschrift, die beide Blätter auf beiden Seiten vollgeschrieben hatte, war wirklich schön. Da hat sich jemand echt Mühe gegeben.

Sie begann zu lesen. Sie wollte endlich wissen, was es mit diesem Brief auf sich hatte und an wen sie ihn weiterschicken musste.



Hallo

Ich weiss nicht, wer diesen Brief hier gefunden hat, denn es ist nur einer von vielen, die ich in den letzten Wochen geschrieben habe.

Ich schrieb diesen Brief von Hand, weil ich schon immer der Meinung war, dass das etwas Persönliches verleiht und dem Empfänger zeigt, dass man sich für das Schreiben die Zeit genommen hat. Vielleicht findest Du sogar einen Fehler, aber das macht nichts. Niemand ist perfekt und ich habe das Streben nach Perfektion irgendwann aufgegeben. Und ehe Du dich fragst, in allen Briefen steht genau das Gleiche.

Diese Briefe habe ich überall verteilt. Ich warf sie in den Wind, "verlor" sie beim Gehen, steckte sie in eine Hecke oder stopfte sogar ein paar in eine Flasche, um sie in den beliebten Schwimmsee zu werfen. Vielleicht gehen einige davon kaputt, werden vom Regen aufgeweicht oder direkt im Müll entsorgt. Wenn Du das liest, hast du einen dieser Briefe gefunden und geöffnet. Vielleicht wirst Du selbst wieder einmal einen schreiben, entweder an einen lieben Menschen oder - wie ich es getan habe - sie irgendwo verteilen.

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