Haut aus Silber

Sechs

Erst hatte Ace gar nicht verstanden, was auf dem Platz vor der alten Farm vor sich gegangen war. Er hatte abseits die Umgebung sichern wollen und nebenbei einen Blick auf die Jagdbeute geworfen. Die schallenden Schreie hatten ihn erst zu der Farm geführt und was sich ihm dort präsentiert hatte, hatte ihn wirklich verwirrt.

Eine gigantische Wulst aus Liriumtentakeln hatte ihren Partner Greenfield aufgespießt, nein durchlöchert. Aber der einzige andere Silver, nämlich Bradley, hatte danebengestanden und war unfähig gewesen, sich zu bewegen. Ace hatte einen Moment gebraucht, um zu erkennen, dass unter der Geschwulst eine Frau gesteckt hatte. Und sie hatte nicht wie eine Silver ausgesehen, sondern wie ein Mensch.

Um Schlimmeres zu verhindern, hatte er sich gerade rechtzeitig von dem ungewohnten Anblick losreißen können und Nieves auf die Liriumauswüchse niederfahren lassen.

Nachdem er die Verletzten versorgt und die Menschen aufgespürt und gefesselt zu den Fahrzeugen gebracht hatte, fand er sich schließlich in einer Verhandlungssituation mit einem Menschen wieder.

Sie war starrsinnig und dreist, aber sie hatte wohl auch nichts zu verlieren. Ihre Versessenheit darauf, ihren Bruder zu retten – falls das wirklich stimmte – kitzelte etwas in ihm. Und ehe er sich versehen hatte, hatte er zugestimmt. Eigentlich hätten ihm noch genau zwei Personen gefehlt, um seine bisherigen Wettkampfergebnisse zu halten, aber seltsamerweise stand es für ihn nicht mehr zur Debatte, ihren Bruder und seinen Begleiter auszuliefern, nachdem sie ihr Leben für die beiden so bereitwillig gab. Außerdem war sie viel wertvoller. Er war sich noch nicht sicher, was er mit ihr vorhatte. Würde er sie Alastair übergeben und ihm berichten, was sie konnte, so würde dieser ihn vielleicht endgültig in Frieden lassen bezüglich seiner Forderungen zur Jagd. Aber andererseits... war er selbst daran interessiert, herauszufinden, was es mit ihr auf sich hatte. Sie hatte Unmengen an Lirium zu sich genommen und es in gewisser Weise manifestieren können, wenn auch unkontrolliert und ohne ihr bewusstes Zutun, wie es schien. Er hatte keine Waffe gesehen, nur... schiere Kraft. Ein Wille zu töten. Er hatte bereits von Silvern gehört, die noch nicht bereit gewesen waren, eine Waffe zu manifestieren und sie war manchmal zerfallen und das Lirium hatte in Teilen ähnliche Strukturen wie bei ihr aufgewiesen. Aber in dieser Form... nein, das war neu. Ganz davon zu schweigen, dass sie ein Mensch war. Wieso konnte sie das Lirium nutzen? Sie hätte sterben müssen.

In Ace formte sich immer mehr der Wunsch, ihre Kräfte kennenzulernen. Eventuell gab es eine Möglichkeit, Alastair zufrieden zu stellen und sie nicht zu verlieren. In seinem Kopf reifte ein Plan heran. Allerdings waren da noch Bradley und der Tote. Die konnten zu einem echten Problem werden. Deshalb entschied er sich, Greenfields Leiche auf ihrem Rückweg zurück zu lassen. Es war zwar schrecklich für die Eltern, aber der unansehnliche Anblick ihres zerfetzten Sohnes war wahrscheinlich auch nicht viel besser. Bradley dagegen hatte er bereits sediert und zu den Menschen gelegt. So würde er vorerst keinen Ärger machen.

Wie versprochen, hatte er die Begleiter der jungen Frau zurück zur Farm gebracht und sie von ihren Fesseln befreit. Kurz war er irritiert darüber gewesen, wie abgeklärt sie sich von den beiden verabschiedet hatte. Streng genommen hatte sie das nämlich gar nicht, wohl aber hatte sie darauf bestanden, ihn zu begleiten. Also hatte er die beiden vor ihren Augen mitsamt der Habseligkeiten, die sie an ihren Körpern trugen, an der Farm abgesetzt. Sie hatte sich nur vergewissert, dass es den beiden gut ging, dann hatte sie sich wortlos umgedreht und ihn angesehen und gemeint: „Können wir gehen?" 

Auf der Fahrt zur Stadt bemerkte er, dass der Glider ihr nicht geheuer war. Sie krallte die Hände in den Sitz und ihr Gesichtsausdruck wirkte angespannt.

„Hast du Angst?", fragte Ace daher, doch sie schüttelte hastig den Kopf.

„Ich versuche, nicht darüber nachzudenken, warum ich hier sitze und nicht hinten scheintot mit den anderen auf der Ladefläche liege. Oder warum du meinen Bruder einfach freigelassen hast, nur weil er mein Bruder ist. Ich vermute, du hast irgendeinen besonders grausamen Plan für mich und versuchst mich einzulullen."