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Verschlafen wachte ich auf, gähnte und streckte mich, bevor ich in das helle Sonnenlicht blinzelte, das mir direkt ins Gesicht schien. Orientierungslos sah ich mich um und erkannte, dass ich im Wohnzimmer lag, auf der Couch, zusammen mit Mia, die keinen Meter weiter weg in einem Haufen von Kissen lag. Die Erinnerung an letzten Abend kamen wieder und ich musste lächeln. Mia war glücklich gewesen, weil ich eingewilligt hatte, mit ihr ihre Lieblings-TV-Show anzusehen. Sie hatte sich gefreut, dass sie bei mir auf der Couch liegen konnte und dass ich nachher zu müde gewesen war, um sie nach oben in ihr Bett zu tragen. Sie hatte sich wie die Prinzessin auf der Erbse gefühlt, als ich sie auf einem Kissenbett drapiert hatte, mit einem Kissenrand rundherum, der hoch genug war, sie von einem Sturz von der Couch zu hindern.
Ich wusste von ihren Schmerzen, die durch zu harte Unterlagen verstärkt wurden. Das war der Grund, weshalb ich immer auf weiche Schlafunterlagen achtete, bevor ich sie schlafen legte. Sie hatte friedlich geschlafen, hatte nicht geweint, hatte keine Schmerzen oder Übelkeit oder Erbrechen gehabt. Eine gute Nacht. Leise rutschte ich von der Couch und tapste auf Wollsocken, die jedes auch nur minimale Geräusch sowieso verschluckt hätten, in die Küche, um Wasser aufzusetzen.
Mein Blick ging wie so oft nach draußen, doch diesmal waren es die Hauseingänge, die meinen schweifenden Blick festhielten. Zu dieser Jahreszeit standen vor jeder Haustür mindestens eine Vase mit grünen Zweigen, die mit bunten, teilweise selbstbemalte, teilweise gekaufte, Ostereiern behängt waren. Teilweise standen auch noch schön in einer Schale arrangierte Blumen auf den Treppen vor dem Hauseingang. Traurig wandte ich den Blick ab. Zu lang hatte ich nicht mehr meine Zeit und meine Mühe darauf verwendet, unseren Hauseingang zu dekorieren. Im Haus fanden sich an die Jahreszeiten angepasste Dekorationen, doch für die Außenwelt blieb unsere Haustür trist und unangepasst.
Ein Schandfleck.
Bei dem Gedanken zuckte ich zusammen. Wie konnte ich so etwas nur denken. Die Nachbarn, mit denen wir uns gut verstanden, wussten, wie es um Mia stand. Oft genug war ich mit ihr auf dem Arm aus der Tür zum Auto gestürzt, einmal musste sie von einem Krankenwagen abgeholt werden, was große Besorgnis unter unseren Nachbarn hervorgerufen hatte. Sie hatten sich sofort nach Mias Befinden erkundigt, kaum waren wir nach einem 1-wöchigen Krankenhausaufenthalt wieder zu Hause gewesen.
Im Laufe des letzten Jahres hatte ich viele Blicke gesehen, die auf mich gefallen waren oder mit denen ich bedacht worden war, während ich von Mias gesundheitlichem Problem sprach. Mitfühlende, mitleidige. Fürsorgliche, besorgte, interessierte. Alles war mit darunter gewesen. Aber selbst wenn der Blick nicht herablassend war, sondern der Gegenüber um Mias und mein Wohl besorgt war … jedes Mal hatte ich mich unwohl gefühlt. Ich mochte diese Blicke nicht. Sie wollten mir nichts Böses, meistens boten sie mir ihre Hilfe an, aber ich konnte nicht damit umgehen. So wie Mia, so wollte auch ich ganz normal behandelt werden, wollte nicht extra nett gegrüßt werden. Ich wollte mich über normale Dinge unterhalten, tagtägliches, nicht über die Metastasen, die Mias Körper immer mehr und mehr befielen und ihr das Leben zur Hölle auf Erden machten. Die ihr das normale Leben unmöglich machten.
Eine Träne löste sich aus meinem Augenwinkel, rollte über meine Wange, doch ich wischte sie unwirsch fort. Ich konnte Tränen nicht gebrauchen. Ich konnte sie nicht zulassen. Nicht jetzt und nicht vor Mia. Ich hasste Selbstmitleid, deswegen unterdrückte ich es jedes Mal, wenn es versuchte, an die Oberfläche zu brechen und mich in einen Heulkrampf zu stürzen. Doch ich fragte mich immer und immer wieder: Warum tat Gott Mia dieses Leid an? Warum nahm er sie mir weg? Warum durfte sie nicht ein ganz normales Leben leben wie jedes Kleinkind, ganz normal in den Kindergarten und in die Schule gehen, studieren, arbeiten, heiraten, Kinder bekommen, alt werden? Warum wurde ihr das untersagt?
Doch nie erhielt ich auf eine Antwort. Ich sagte mir, vielleicht lag es an mir. Vielleicht musste Mia für einen meiner Fehler büßen. Aber das war nicht fair. Nicht für Mia und auch nicht für mich.
Mia kam für mich an allererster Stelle. Sie war die Einzige, die mir noch geblieben war. Die noch immer zu mir stand, die mich bedingungslos liebte. Und ich tat es ihr gleich. Ich liebte meine kleine Mia.
Noch eine Träne kullerte und noch eine und als sich mein Blick schärfte, nahm ich wahr, dass ich über die Spüle gebeugt stand, die Hände an die Seiten gekrallt hatte und weinte. Niemand konnte mir weismachen, dass es nicht auch mich aufs Furchtbarste schmerzte, sie so leiden zu sehen. Aber ich konnte nichts anderes tun, als ihr die Schmerzmittel früh genug zu geben, dass die Schmerzen gar nicht erst die Chance bekamen, sich wieder ihres Körpers zu bemächtigen.
Es war alles andere als einfach, aber bisher hatten wir uns gemeinsam durchgebissen und überlebt. Ich hatte nicht vor, aufzugeben.
Ruckhaft hob ich den Kopf, weil ich etwas aus dem Wohnzimmer gehört hatte. Mias Husten. Ich war mir nie sicher, ob es nur Husten oder etwas Schlimmeres war, ob sie sich übergeben musste. Deswegen hastete ich auf meinen rutschigen Wollsocken ins angrenzende Zimmer, wo sie immer noch in ihrem Kissenschloss lag, den Kopf mittlerweile auf den Rand abgelegt und mit ihren braunen Augen ins Leere starrte. Der Husten war wieder verschwunden, vielleicht hatte sie sich verschluckt. Augenblicklich wurde ich wieder ruhiger. Als sie merkte, dass ich langsam auf sie zukam, hob sie den Kopf und sah mich aufmerksam an. Eine steile Falte bildete sich zwischen ihren kleinen, zarten Augenbrauen.
„Was ist los, kleine Maus?“ Sanft strich ich über ihre Stirn, aber sie schob meine Hand weg.
„Mommy, weinst du?“ Ihre kleine Hand legte sich an meine Wange, die ganz nass war.
„Nein.“ Rasch wischte ich mir die Tränen weg, lächelte Mia an und gab ihr einen Kuss auf ihre Nasenspitze. Das hatte sie bisher immer abgelenkt. Auch diesmal funktionierte es und sie kicherte, bevor sie ihre Hände vors Gesicht hielt, um mich davon abzuhalten, sie noch weiter zu küssen.
„Mir geht’s es gut, Schätzchen“, versicherte ich ihr. „Wie geht es dir? Tut dir was weh?“
Ihre Hand ging fast automatisch zu ihrem Kopf, legte sich auf ihn. Traurig lächelte ich, küsste sie noch einmal und ging dann, um das Schmerzmittel zu holen. Sie konnte die Tabletten nicht schlucken, also musste ihr das Schmerzmittel immer intravenös verabreicht werden. Ich war mir sicher, dass es Mia mittlerweile weniger ausmachte als mir, der ich ihr immer die Nadel in ihren dünnen Arm stecken musste. Das Schmerzmittel wirkte und Mia wurde wieder müde, ich ließ sie noch eine Runde schlafen, machte mir einen Kaffee, setzte mich wieder zu meiner Kleinen auf die Couch und machte den Fernseher an, weil sie so immer schon am besten schlafen konnte.
Bis Mia wieder munter war, dauerte es eine Zeit lang, und es war bereits nach 1 Uhr mittags, als wir frühstückten. Jetzt ging es ihr wieder besser. Ihre Augen blickten fröhlich und heiter, bevor ich sie daran erinnerte, dass wir nachher noch einen Termin hatten und früh genug losfahren mussten, um pünktlich zu sein.
Der Spezialist, der Mia behandelte, hatte seine Praxis 3 Stunden von uns entfernt, sodass ich schon einmal mindestens eine Stunde Stau auf der Hinfahrt mit einberechnete, denn er war keiner, den man gerne warten ließ. Er war nett und behandelte Mia immer freundlich, aber er konnte ungemütlich werden, wenn er zu lang auf seine Patienten warten musste. Ich scheuchte Mia die Treppe hoch, damit sie sich fertig machte und anzog, damit wir pünktlich loskonnten. Die Straßen waren vielbefahren, die Autofahrer fuhren wie die Schweine, schnitten mich mehrmals oder bremsten mich aufs Absurdeste aus, dass ich mich auf den 4 Stunden Fahrt so oft wie in den letzten 2 Monaten nicht mehr aufgeregt hatte. Mit Mia an der Hand hetzte ich über den großen Parkplatz zu Dr. Schmidts Praxis. Sobald wir durch die Tür durch die Tür stürzten, wurden wir von diesem typischen, mir so verhassten, Arztpraxengeruch empfangen. Egal, welche Praxis man betrat, überall roch es gleich. Nach Desinfektionsmittel und den Gummischuhen der Arzthelferinnen und die Mäntel der Ärzte. Ich hatte Albträume von diesem Geruch, von den Praxen, von den neutralen Gesichtern der Arzthelferinnen, der mitleidigen Blicke der Ärzte. Zu oft hatte ich das schon gesehen.
Mit knappem Atem meldete ich Mia an und wir wurden gleich durchgewunken, zum hinteren Arztzimmer, das kinderfreundlich eingerichtet war. Die Wände waren mit bunten Farben angemalt, es standen Spielsachen zur Verfügung und die Arztliege war nicht so hoch eingestellt wie in den anderen Zimmern. Der Arzt würde gleich dazukommen, also setzten wir uns auf die 2 Stühle, die vor dem breiten Schreibtisch standen. Mia beschäftigte sich mit den Holzklötzen, legte ein vorgegebenes Muster nach, was sie in weniger als 2 Minuten geschafft hatte. Mia war intelligent für ihr Alter. Ich als ihre Mutter war da vielleicht ein wenig voreingenommen, aber wen interessierte das?! Für mich war Mia das klügste Kind, dass auf dem Planeten wandelte. Sie verstand Zusammenhänge unglaublich schnell, kombinierte und schlussfolgerte, ohne, dass man sie dazu anhalten musste.
Sie war unglaublich interessiert in allem, beschäftigte sich gern mit neuen Dingen, lernte schnell und bildete sich zu allem eine eigene Meinung. Wenn jemand eine Meinung zu etwas äußerte, womit sie sich bereits schon beschäftigt hatte, aber eine ganz andere Auffassung hatte, zog sie die Nase kraus, sagte aber nichts. Erst später, wenn wir 2 unter uns waren, äußerte sie ihren Missfallen und ihre Missgunst.
Gott, sie war so schlau. Und unglaublich. Für mich mein Ein und Alles.
Ich betrachtete sie, wie sie mit den Klötzen irgendein Gebilde baute, was an ein Haus erinnerte, betrachtete ihre braunen, lockigen Haare, die ihr wirr ins Gesicht hingen, und welche sie unwirsch nach hinten strich, wenn sie sie störten. Ihre Gesichtszüge waren fein gezeichnet, ihre Stupsnase verriet ihren Geist, ihr Interesse am Leben. Ich könnte stundenlang über sie schwärmen.
Die Tür wurde ohne Anklopfen aufgerissen und herein kam Dr. John Schmidt, wie üblich im weißen Ärztekittel und Gummischuhen, die ekelhaft klangen, wenn er damit an einem vorbeiging. Er lächelte leicht, anscheinend schien er einen guten Tag zu haben, was uns nur zugutekommen konnte. Ich stand von meinem Stuhl auf, kam ihm einen Schritt entgegen und reichte ihm meine Hand. Er drückte sie kurz mit seiner angenehm warmen, bevor er sie wieder los ließ und sich Mia widmete, die mittlerweile auch aufgestanden war und ihm die Hand hinstreckte.
„Wie geht’s unserer Mia heute?“, erkundigte er sich.
„Gut“, antwortete sie knapp, sah ihn aufmerksam an.
„Wenn das so ist … setzt du dich bitte zu mir auf die Liege? Machen wir wieder ein paar Übungen, damit wir wissen, dass es dir super geht, oke?“
Sie nickte eifrig, kletterte zu ihm auf die Liege, er prüfte ihre Reflexe, tastete sie ab. Ich saß wieder auf meinem Stuhl und beobachtete die beiden, wurde unruhiger, als Dr. Schmidts Brauen sich zusammenzogen und sich um seine Mundwinkel ein Zug legte, der mir Angst einjagte.
„Mia? Hast du was dagegen, wenn wir 2 in den Nebenraum gehen, und ich mit diesem riesigen Gerät nochmal ganz genau schau, ob alles gut ist?“
Sie schüttelte den Kopf, ließ sich an der Hand fassen und ging mit ihm in den Nebenraum, wo der MRT-Apparat stand. Mir lief es kalt den Rücken runter.
Gott, bitte, lass es nicht zu. Nimm ihr nicht ihr Leben.
Schmidt war ein guter Arzt und wenn er Annahme dazu hatte, dass er einen MRT machen musste, um sich sicher sein zu können, trieb mir das die Magensäure in die Speiseröhre. Mir war übel vor Angst, dass die Diagnose, die mir Schmidt gleich bringen würde, Mias Leben noch mehr zerstören könnte.
Die Tür öffnete sich, Mia kam voran hereingehüpft. Sie beachtete mich gar nicht, lief gleich zu der Liege und setzte sich wieder. Schmidt kam langsam hinterher, redete kurz mit Mia und bat mich aus dem Zimmer, schickte die Arzthelferin, die auch mit beim MRT gewesen zu sein schien, um Mia Gesellschaft zu leisten. Wir setzten uns in einen kleinen Raum gegenüber, er zeigte mir die MRT-Befunde.
Der Krebs hatte gestreut.
Ich brach in Tränen aus.
„Es tut mir leid, aber noch haben wir nicht verloren. Ich weiß, dass für nächste Woche die Termine für die OPs angesetzt sind. Wir werden diese OPs auch wahrnehmen. Wir werden nicht den Krebs gewinnen lassen, dass verspreche ich Ihnen.“
„Wie soll sie das schaffen? Wenn er gestreut hat, sitzt er jetzt überall. Sie können sie doch nicht überall aufschneiden!“
„Nein, aber wir werden den Kampf Stück für Stück aufnehmen. Wir werden dort, wo der Krebs aufgetreten ist, am Hirnstamm, und dort, wo er zuerst hingestreut hat, am Rückenmark, operieren. Wir entfernen ihn dort. Und dann beginnen wir mit der Chemo. Wenn sie wieder nicht darauf anschlägt, dann machen wirs anders. Aber wir werden kämpfen und gewinnen. Wir werden sie nicht verlieren.“
Tröstend legte er eine Hand auf meine, beruhigte mich, zeigte mir, dass er optimistisch war. Dass er bereit war, zu kämpfen, für Mias Gesundheit und ihr Glück.
„Wir setzen die Termine für diesen Freitag und für Montag. Wir fangen so schnell wie möglich an. Damit der Krebs nicht noch mehr Zeit bekommt, sich auszubreiten.“
„Danke.“
Er nickte nur, wir erhoben uns und gingen wieder zurück. Durch die Tür hörte ich Mia vergnügt quietschen. Abrupt blieb ich stehen, legte meine Hand an die Tür und stand für einen Moment einfach nur so da, bis ich mich wieder gefasst hatte, die Tür langsam öffnete und Mia aufmunternd anlächelte, als sie auf mich zugelaufen kam.
„Mommy, über was habt ihr geredet?“
„Über dich, Mia, es geht nur um dich.“ Sanft küsste ich sie auf ihre weichen Haare, drückte sie kurz an mich, bevor ich sie wieder losließ und sie sich an Dr Schmidt wandte.
„Wir werden deine Schmerzmitteldosis erhöhen, Mia, damit du weniger Schmerzen hast, oke?“ Sie nickte, griff nach meiner Hand, hielt sich fest. Ich wusste, dass sie verunsichert war, dass sie Angst hatte, dass sie nicht wusste, was alles auf sie zukommen würde. Ich nahm mir vor, ihr alles Zuhause in Ruhe zu erklären, dass sie Fragen stellen konnte, die sie sich vor dem Arzt nicht zu stellen traute.
Ich drückte ihre Hand fest, verabschiedete mich von Dr. Schmidt und zusammen gingen wir aus der Praxis ins Freie, die Sonne schien uns ins Gesicht, als ob der Tag zu schön wäre, um war zu sein. Aber ich hatte gerade eine niederschmetternde Nachricht erhalten, dessen Ursache mir vielleicht mein Kind nehmen würde. Aber das würde ich nicht zulassen. Ich würde kämpfen, wir würden kämpfen, wie es Dr. Schmidt gesagt hatte.
Ich würde nicht eher aufgeben, bis sie geheilt war oder … tot.
Der Gedanke trieb mir die Tränen in die Augen und genau in diesem Moment wurde mir verdammt klar, dass ich nicht träumte. Ich war im Hier und Jetzt und hielt meine Tochter an der Hand, die vielleicht sterben würde. Ein unglaublicher Schmerz durchfuhr mich, ließ meinen Atem stocken und mein Herz verkrampfen.
Ich musste jetzt stark sein. Für Mia. Und für mich.

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⏰ Last updated: Jul 21, 2018 ⏰

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