Harry - Ein magischer Fund

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Harry starrte an die schmutzige Decke, die nur wenige Zentimeter von seinem Kopf entfernt war. Mit seiner kleinen Hand griff er nach einer Spinnenwebe, die in der Ecke des anderweitig genutzten Wandschranks hing. Doch anstatt sie herunter zu reißen, streichte er sie nur beiläufig und verlor seinen Blick in den zarten Windungen des Gebildes. Harry zog seine Hand wieder zu sich heran. Der grüne Spielzeugsoldat, den er gestern in die Ecke gestellt hatte, stand noch immer an seinem Platz, genau unter der Spinnenwebe. Harry wischte sich über die Augen bevor er ihn ansah. Der Staub, der immer aufgewirbelt wurde wenn Harry sich bewegte, brannte in seinen Augen und ließ sie tränen.

Ein hauchdünner Spinnenfaden hatte sich über den Helm des Soldaten gelegt. Wortlos wischte Harry mit seinem Zeigefinger über das harte Gummi sodass das Spielzeug nach vorn kippte und zu Boden fiel. »Mist.« murmelte Harry und seufzte. Der Soldat war genau in den Spalt zwischen Bett und Tante Petunias Serviettensammlung gefallen. Harry war schon beim Gedanken daran angeekelt, dort hinein zu fassen. Der winzige Raum war nur spärlich beleuchtet und man konnte nie wissen, auf was man hier drinnen noch alles stoßen könnte. Harry schluckte. In ihm tobte ein Kampf zwischen Ekel und dem Willen, das einzige Spielzeug wieder zu finden, das er besaß. Ein lautes Poltern riss Harry aus seinen Gedanken.

»ICH HAB HUNGER!!«, schrie Dudley und trampelte wütend die Treppen nach unten. Harry musste husten, hielt sich aber instinktiv beide Hände vor den Mundum keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Schnell griff er noch nach dem dreckigen Strick, der von der Decke hing. Das Licht im Wandschrank erlosch. Harry war mucksmäuschenstill. Er hatte seine Augen weit geöffnet, um so im Halbdunkel etwas zuerkennen. Die einzige Lichtquelle war die der Küchenlampe, die Dudley energisch eingeschaltet hatte. »Dudley-Schätzchen, denkst du nicht es ist etwas zu spät zum Essen, es ist doch Schlafenszeit.«, fragte Tante Petunia mit ihrer schleimig-säuselnden Stimme, die sie immer aufsetzte, wenn Dudley etwas wollte, das er nicht bekommen sollte.

Harry konnte sich bildlich Tante Petunias spitzes Gesicht vorstellen, ihre dünnen Lippen, die sie immer nervös zusammen presste, wenn sie auf eine Antwort ihres Dudley-putzi-wutzi-tinky-winky-wiener-wimmy-Knuddelbärchens wartete. Harry kicherte leise; er kannte niemanden, der eine grausamere Tante hatte, über die man sich aber dennoch lustig machen konnte, wenn man abends wieder einmal alleine in seinem Schrank saß. Was blieb Harry auch anderes übrig?

Zwar hatte er keine Uhr in seinem Schrank, dennoch schätzte er, dass es ungefähr weitere zehn Minuten gewesen sein mussten, in denen Tante Petunia weiter mit Dudley diskutierte. Danach war Stille eingekehrt, ausschließlich das Brutzeln der Bratpfanne war zu hören. Der Geruch von gebratenen Eiern drang bis in den Wandschrank vor und brachte Harrys Magen zum Grummeln. Reflexartig drückte Harry seine Hand gegen seinen Bauch und seufzte. Er hatte zum Abendbrot gerade mal ein Stück Brot vom Vortag gegessen, das mit Käse belegt war. Die Dursleys dinierten hingegen mit zartem Sunday Roast und Yorkshire Pudding. Harry seufzte und lehnte sich zurück. Sein Magen hatte sich noch immer zusammen gezogen, der Hunger würde wohl so schnell nicht mehr verschwinden. Plötzlich kam ihm sein Spielzeugsoldat wieder in den Sinn. Harry drehte sich auf die Seite, sodass er fast auf seinem Bauch lag als er mit seiner Hand nach unten fasste. Harry tastete den Fußboden nach dem Spielzeug ab und zog einige Staubmäuse mit sich.

Gerade als er den Soldaten griff, durchfuhr ihn ein pulsierender Schmerz. »Au!« Harry konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken. Er hatte sich an irgendetwas die Hand verletzt. Der Schmerz ließ schnell nach und im selben Moment, als er aufgeschrien hatte, bereute Harry auch schon, sich dieses Mal nicht hatte beherrschen können. Die alte, hölzerne Tür des Wandschranks knarrte. Tante Petunia hatte ihn augenscheinlich gehört. Zu ihrem spindeldürren Silhouette hatte sich Dudley gesellt, dessen fettverschmierter Mund breit grinste. Dudley wusste, dass Harry Ärger kriegen würde weil er noch wach war. »Du hast um diese Uhrzeit längst zu schlafen!« Ihr Kinn bebte vor Empörung.

»Ist gut Tante Petunia.«, murmelte Harry und zog die Bettdecke über seinen Kopf. Man konnte nur noch ein leises Schnauben hören, bevor die Tür unsanf tgeschlossen wurde. Harry atmete auf. Abermals ein Trampeln, dieses Mal allerdings die Treppen hoch, danach war Ruhe. Harry schnaufte, dann fiel ihm plötzlich wieder ein, dass er sich geschnitten hatte. Er konnte seine Neugier nicht unterbinden, also fasste er noch einmal in die Dunkelheit. Diesmal allerdings war er vorsichtiger. Es dauerte nicht einmal drei Sekunden bis er die scharfe Kante wiedergefunden hatte. Behutsam fuhr Harry über die Stelle, an der er sich vorhin verletzt hatte. Sie wackelte. Verdutzt wandte sich Harry nach unten und versuchte etwas zu sehen.

Harry drückte vorsichtig gegen die Stelle, die er zwar immer noch fühlen, aber nicht sehen konnte. Als er sich drehte, um noch weiter hinunter zu kommen, ruckelte er unbeabsichtigt an ihr. Es stellte sich heraus, dass es eine lose Diele war, an deren abgesplitterten Holz sich Harry geschnitten hatte. Harry griff nach dem Strick und abermals durchströmte ein schwaches Licht den Raum. Harry wollte gerade die Diele wieder an seinen Platz zurück legen, als er im Boden etwas entdeckte, das sein Interesse weckte.

Ein kleines, dreckiges Buch. Schnell legte Harry die Diele zurück an seinen Platz und setzte sich ins Bett, den Rücken an die Wand gelehnt. Er hatte seine Beine zu einem Schneidersitz verschränkt und sah auf das Buch. Seine schmalen Finger glitten sanft über den smaragdgrünen Einband, auf dem mit goldenen Lettern die Buchstaben L und E angebracht waren. Neugierig schlug er die ersten Seiten des Buches auf und begann zu lesen. Schon nach den ersten Worten stockte ihm der Atem.

»Mom.« sagte Harry fast stimmlos, während sein Blick weiter gebannt über die Zeilen flog. Die ganze Nacht konnte Harry nicht schlafen, und dennoch war dies die wohl schönste seines bisherigen Lebens. Seine Mutter schrieb über ihre Kindheit, dem Datum nach zu urteilen musste sie damals in etwa zehn Jahre alt gewesen sein. Tante Petunia hatte das Tagebuch seiner Mutter all die Jahre aufbewahrt, versteckt in einem Wandschrank unter einer alten Diele, dort, wo es niemals jemand hatte finden sollen. Vielleicht hatte Petunia ihre kleine Schwester doch nicht so sehr gehasst, wie Harry immer gedacht hatte. In dieser Nacht begann Harry, die Dinge anders zu sehen; eben in diesem Moment änderte sich auch seine Sicht auf Tante Petunia, wenn auch nur für kurze Zeit. Diese Nacht sollte der Anfang eines neuen Lebens für Harry sein, eine Welt voller Magie. 

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