13. Kapitel

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13. Kapitel

Das Schicksal ist ein mieser Verräter

-John Green

Es war mitten in der Nacht und ich lag in meinem Bett, starrte an die Decke, ohne über etwas Bestimmtes nachzudenken. Ein Teil von mir wartete darauf, dass Lil schreien würde, damit ich zu ihr gehen konnte, um sie zu beruhigen und anschließend schlafen zu gehen. Ein anderer Teil von mir wusste, dass das nicht passieren würde. Ich konnte nicht sagen wie ich darauf kam, aber ich tat es. Vielleicht war es Intuition, vielleicht war es auch nur ein naiver Wunsch.

Müde drehte ich mich auf den Bauch und lehnte die Stirn an die Wand. Das Bett meiner Schwester war direkt dahinter. Alles was uns von einander trennte, waren 10 cm dicker Beton. Zehn Zentimeter zu viel, zehn Zentimeter zu wenig.

Es gab Tage an denen ich mir wünschte ich wäre damals den Schritt gegangen sie aus der Obhut unserer Eltern zunehmen. Und dann dachte ich daran, dass sie bereits in dieser Konstellation auf uns alle aufpasste. Wie wäre es erst geworden, wenn ich sie zu mir genommen hätte? Wenn wir alleine gewesen wären? Sie hätte noch mehr zu spüren bekommen, wie sehr ich unsere Eltern manchmal hasste und wie wenig ich mir vorstellen konnte, dass sie eines Tages nicht mehr in meiner Reichweite war. Und weil es einfach in ihrer Natur lag, hätte sie entsprechend gehandelt. Eine Tatsache, die ich beängstigend fand. Sie war das Kind und wir die Erwachsenen. Es wäre nicht richtig gewesen, sie in diese Situation zu bringen. Aber irgendwie waren wir nach allem trotzdem dort gelandet. Sie war der klügste Mensch im Raum, in der Familie. Schon immer und sie würde es immer sein.

Resignation machte sich in mir breit, als ich mich seufzend auf die Seite drehte. Gerade als sich langsam meine Lieder zu schließen begannen, hörte ich es. Einen Moment lang lauschte ich einfach nur, ehe ich aufstand und in Boxershorts und T-Shirt durch das Haus lief, direkt darauf zu. Mein Dad saß auf dem Sofa in seinem Arbeitszimmer und starrte auf den Fernseher, auf dem normalerweise nur Nachrichten liefen. Vorzugsweise die aktuellen über den Krieg. Eine Angewohnheit, die er durch seine Arbeit hatte und Mum manchmal in den Wahnsinn trieb.

Doch dieses Mal war es ein ganz anderes Bild, das darauf zu sehen war. Es waren meine Schwestern. Arm in Arm lagen sie in der Hängematte und lachten. Vollkommen versunken schaute er auf das pausierte Video. Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen bei dem Anblick, gleichzeitig war es schön Anna zusehen. Ihr Lachen, ihre Augen, ihr lebendiges Gesicht.

Ich räusperte mich leise um ihn auf mich aufmerksam zu machen, aber er sah mich nicht an. Kurz glaubte ich, dass er mich nicht gehört hatte, aber dann sagte er, ohne seinen Blick abzuwenden:

„Eltern sollten ihre Kinder nicht begraben."

Ich schluckte schwer. Ich überlegte, ob ich etwas sagen konnte oder sollte, als er mich ansah und flüsterte:

„Ich vermisse sie so sehr."

Plötzlich schob sich eine Gestalt an mir vorbei. Sie setzte sich zu ihm und kuschelte sich an ihn. Er legte den Arm um sie und küsste sie aufs Haar. Ein Bild, das ich mit einem kleinen Lächeln betrachtete. Mir war klar, dass meine Mum es nicht gutheißen würde. Sie wollte nicht, dass wir über Anna sprachen und weil Dad sie liebte, respektierte er das. Doch sie schlief und wir waren hier und wach.

Ich ging zu ihnen und setzte mich auf die andere Seite meines Dads. Er drehte sich zu mir und gab auch mir einen Kuss, jedoch auf die Stirn.

„Ich liebe euch Beide. Mehr als ihr ahnt."

Dann drückte er auf Play, das Bild wurde lebendig und mit ihm ein Teil meiner Schwester. Zu dritt saßen wir da, wie die Familie die wir einst waren und nie mehr sein würden. Wir lachten, als Anna einen Scherz machte und Lilly solange kitzelte, bis sie aus der Hängematten fielen und sich im Gras kugelten. Es war ein schöner Anblick. Irgendwann wurde die Kamera umgeschwenkt und zeigte wie ich an die Veranda gelehnt dastand und zusah. Ich erinnerte mich, dass ich oft neidisch war weil die Beiden eine so gute Beziehung hatten und ich nicht wirklich ein Teil davon war. Doch auf diesem Video sah ich glücklich aus. Zumindest lächelte ich. Im nächsten Moment rannte Lilly zu mir und versuchte sich hinter mir vor Anna zu verstecken während ich so tat, als würde ich sie mit meinem Leben beschützen. Als Anna sie erwischte, schmiss ich mich auf meine Schwestern und kitzelte beide durch, bis wir zu dritt dalagen und schwer atmend in den Himmel schauten. Das Bild verschwamm kurz, dann sah man unsere Mum, wie sie lächelte und ich wusste, dass sie in diesem Moment absolut und unwiderrufbar glücklich war. Dann war das Video zu Ende.

In Gedanken versunken schauten wir alle noch eine Weile auf das schwarze Bild. Als erstes löste ich mich aus meiner Starre. Ich bemerkte, dass Lil meine Hand hielt und abwesend mit dem Daumen darüber strich. Ich drückte sie sanft und holte sie damit zurück in die Gegenwart. Ihre grünen Augen betrachteten mich eingehend, dann unseren Dad. Und mit einem Mal fiel mir auf, dass sie dieselben Augen hatte, wie Anna. Ich hatte tatsächlich vergessen, welche Farbe die Augen von Anna gehabt hatten.

Verstohlen wischte ich mir eine Träne aus den Augen und löste mich aus der Konstellation. Ich fühlte mich schrecklich und brauchte dringend Abstand. Meine Füße trugen mich nicht zurück in mein Zimmer, sondern raus in den Garten. Tief atmete ich die Nachtluft ein und schaute in den Himmel.

Ich hatte es einfach vergessen. Ich hatte etwas über Anna vergessen. Eine Tatsache, die mir Angst machte. Ich wollte sie nicht vergessen. Kein noch so winziges Detail von ihr. Weder ihr Lachen, noch ihre Stimme oder die verdammte Farbe ihrer Augen. Sie war meine Schwester. Sie ist meine Schwester. Ich konnte sie nicht vergessen. Aber wenn ich ehrlich war, so sehr ich es auch hasste, hatte ich nicht nur ihre Augen vergessen. Ihre Stimme war als erstes aus meinen Gedanken verschwunden. Jetzt ihre Augenfarbe. Was kam als nächstes?

„Es geht mir gut", meinte ich leise.

Ihr Blick in meinem Rücken, war fast wie ein Stich mit dem Messer. Durchdringend und schmerzhaft. Noch nie zuvor hatte ich mir mehr gewünscht, dass sie einfach gehen würde.

„Tut es nicht", stellte sie fest.

Ihre Stimme war weder warm, noch kalt. Einfach ... neutral, während meine fast brach. Wut stieg in mir auf und ich wusste nicht einmal warum. Vielleicht weil sie stärker war als ich. Mal wieder.

„Geh einfach", murmelte ich.

„Nein", sagte sie fest.

Abrupt drehte ich mich zu ihr um.

„Hau ab!", brüllte ich.

Es kümmerte mich nicht, ob ich damit meine Mum oder sogar die ganze Nachbarschaft weckte. Sie sollte gehen.

Das Gras raschelte leise unter ihren nackten Füßen, als sie sich mir näherte und erneut sagte:

„Nein."

Sie stand direkt vor mir, so dass sich unsere Nasen beinah berührten, als ich mich bedrohlich zu ihr runterbeugte und Zähne knirschend anstarrte. Es brachte ohnehin nichts sie erneut aufzufordern zu verschwinden. Ich überlegte wie ich sie sonst loswerden konnte, als sie plötzlich die Stille brach:

„Zuerst hab ich vergessen, wie sie klang. Dann wie sie lief, das Gefühl wenn sie mich im Arm hielt, die Farbe ihrer Haare und Augen. Ich hab mich so geschämt, als ich es bemerkt habe. Am Liebsten hätte ich geweint, aber ich wusste noch dass sie nicht da sein würde um mich zu trösten, also ließ ich es."

Lillys Blick wandte sich von meinen Augen ab und runter zu meiner Brust, als könnte sie es nicht länger ertragen mich anzusehen.

„Eines Nachts hab ich mich in dein Zimmer geschlichen und ein Foto von ihr genommen. Ich wollte sie bei mir haben. Wollte etwas, womit ich mich erinnern konnte. Ich schlief damit, wachte damit auf. Doch irgendwann war es nicht mehr genug. Also tat ich das Selbe wir heute Nacht: Ich ging in Dads Arbeitszimmer und schaute mir die Videos an. Ich kenne alle auswendig und trotzdem vergesse ich manchmal wie sie klingt."

Lil suchte kurz nach Worten, dann hob sie ihren Kopf und sah mich an. Sie legte eine Hand an meine Wange.

„Es ist keine Schande Leo. Es ist einfach so."

Etwas brach in mir. Weder mein Stolz, noch meine Würde, obwohl ein Teil davon vermutlich entschwand, als ich die Augen schloss und stumm zu weinen begann. Meine Wange schmiegte sich noch immer in ihre Hand, als sie sich auf die Zehnspitzen stelle und in ihre Arme zog.

Das Schicksal ist ein mieser Verräter.


Forbidden Touch (TNM-#0.5)Where stories live. Discover now