1. Kapitel

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1. Kapitel

Meistens belehrt erst der Verlust uns über den Wert der Dinge.

-Arthur Schopenhauer

Lilly und ich standen gemeinsam an Annas Grab und sahen auf die Blumen, welche meine kleine Schwester extra für diesen Anlass gepflückt hatte. Wildblumen. Annas Lieblingsblumen. Sie hatte die aus dem Laden noch nie gemocht. Sie fand sie immer zu perfekt. Zu unnatürlich. All die gleichlangen Stile, ähnliche Farben und das wahllos dazwischen gestecktes Grün, was dass Ganz nur noch hässlicher machte. Viel lieber war sie durch die Felder gestreift und hatte sie sich selbst gepflückt. Lilly war ihr immer hinterhergelaufen und hatte mit ihr in den hohen Gräsern verstecken gespielt. Irgendwann hat man nur noch lautes Lachen gehört. Dann lagen Beide in der Wiese und waren vom Herumalbern vollkommen außer Atem.

Mein Herz schmerzte bei dieser Erinnerung und ich legte Lilly den Arm um die schmalen Schultern, mehr um mich selbst zu trösten als sie. Fast sieben Jahre war es jetzt schon her, dass unsere Schwester gestorben war. Lilly hatte damals neben ihr gelegen. In Annas Arm. Mein Vater hatte ihr den Arm brechen müssen, um Lilly aus ihrer kalten, starren Umarmung zu reißen. Es mag brutal klingen, und genau das war es auch, es hatte ihn in der Seele geschmerzt es tun zu müssen, aber um seiner verliebenden Tochter willen, hatte er es getan. Lil hatte davon nach wie vor die schlimmsten Albträume. Manchmal schrie sie nachts durchs ganze Haus, warf sich im Bett hin und her, schlug wild um sich, als könne sie dadurch die Erinnerung verdrängen. Dann rannte ich zu ihr um sie zu wecken, damit sie wenigstens für den Moment davon befreit war. Das ich ihr nicht wirklich helfen konnte damit fertig zu werden war mir klar und nagte an mir zu jeder Zeit. Unsere Eltern lagen unterdessen einfach weiter in ihren Betten und schliefen weiter. Zumindest taten sie so. Denn meines Erachtens nach, konnte man Lilly gar nicht überhören, ganz gleich wie tief man vielleicht auch schlafen mochte, dieses Geräusch riss einen raus. In jeglicher Hinsicht.

Seit dem Tod unserer großen Schwester und dem Umzug ins neue Haus, wurde nicht mehr über Anna gesprochen. Es war das neue unausgesprochene Gesetzt, welches mit der neuen Umgebung gekommen war. Wir hatten schnell gelernt, dass es unklug war den Namen der Person auszusprechen, die jeder vermisste und niemand zurückbringen konnte. Ich hasste es zu wissen, dass Lilly die meiste Zeit alleine mit ihren Albträumen war. Ich lebte im Grunde auf dem Stützpunkt oder war auf Einsätzen. Die wenigen Tage im Jahr in denen ich zu Hause war, versuchte ich dafür umso mehr für Lilly da zu sein. Nicht nur weil ich sie liebte, sondern weil ich es ihr nach allem schlichtweg schuldig war. Damals wie heute war es gleich was ich tat oder noch tun würde, ich würde immer in ihrer Schuld stehen, für alles was geschehen war und noch passieren sollte.

Aber Anna war immer viel besser darin gewesen sich um sie zu kümmern. Im Grunde war sie Lillys Mutter gewesen. Anna hatte ihr ganzes Leben nach Lilly ausgerichtet, sobald sie auf der Welt war. Unsere Mum hatte wieder arbeiten wollen. Sie hatte Angst ihren Job zu verlieren oder zu lange raus zu sein, wenn sie daheim bliebe und sich um das neuste Familienmitglied kümmerte. Also war Anna diejenige, die Lilly in den Kindergarten brachte und später in die Schule. Die mit ihr Hausaufgaben machte und für Klausuren lernte. Mit ihr spielte und sie zum Klavierunterricht brachte, den Lilly nur wollte weil sie Anna beeindrucken wollte. Anna war der Fels in der Brandung, Lillys großes Vorbild.

Entschlossen reckte ich mein Kinn vor und schob die Erinnerungen daran beiseite. Sie taten zu weh um weiter darin zu schwelgen. Außerdem brachte es nichts mit den Gedanken in der Vergangenheit zu hängen, man konnte es ja doch nicht ändern. Lilly lehnte ihren Kopf an meine Schulter und sah zu mir auf.

„Lass uns gehen", bat sie leise.

Ich nickte und lief mit ihr zusammen zum Auto. Wie gewohnt öffnete ich ihr die Beifahrertür und setzte mich dann hinters Steuer. Wir schlugen beide die Türen zu und lehnten uns für einen Moment zurück. Lilly sah zu mir rüber. Ich blickte in ihre strahlend grünen Augen und strich ihr eine Strähne ihrer langen, braunen Haare zurück, welche ihr in die Stirn gefallen war.

Forbidden Touch (TNM-#0.5)Where stories live. Discover now