8. Kapitel

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8. Kapitel


Die Menschen suchen ihr ganzes Leben lang nach Glück. Doch dass sie es gefunden haben, bemerken sie erst wenn es wieder fort ist.

-K.M.


Ich wusste nicht ob ihm klar war dass ich ihn gehört hatte. Oder ob er wollte, dass ich ihn hörte. Ganz gleich wie die Antwort auch lautete, ich tat es. Klar und deutlich verstand ich, dass ich es war an die er dachte. Und zwar immer. Es war die logische Konsequenz aus unserem Leben, den Ereignissen die wir gemeinsam überstanden hatten. Seit Anna tot war, kümmerte er sich um mich. Natürlich hatten wir nachwievor Eltern, aber für mich beschränkte sich meine Familie seit einer halben Ewigkeit nur noch auf ihn.

Dennoch, etwas an der Art wie er es sagte, ließ mich seltsam fühlen. Ein winziges Kribbeln war in meinem Bauch zu spüren, ein leichter Schauer ging durch meinen Körper und meine Gedanken schienen zu erstarren. Was war nur los mit mir? Was war los mit ihm? Wieso benahmen wir uns so seltsam? Was in aller Welt stimmte denn nicht mit uns?

Ratlos drehte ich mich in seine Richtung und schaute ihn an. Leos Gesicht wirkte selbst im Schlaf angespannt und unruhig.

Doch seine Sorgen waren vollkommen unbegründet. Es ging mir gut. Ich hatte keine Angst mehr davor dass der General herausfand dass ich ihnen half. Es war mir gleichgültig geworden. Die Sicherheit der Einheit ging vor. Mein Bruder ging vor. Was machte es da schon, wenn er wieder versuchte mich für das Militär zu gewinnen? Er konnte mich nicht zwingen und seinen Fragen und Bitten konnte ich allemal widerstehen. Ich wusste was ich wollte: Ein normales Leben mit einem normalen Job. Es reichte mir meinen Dad und Bruder in Gefahr zu wissen. Ich wollte nicht auch noch um mein eigenes Leben fürchten. Ich hasste mich dafür, dass ich zugelassen hatte dass er beim Militär blieb. Das ich es sogar war, die ihn letzten Endes dazu überredet hatte. Ich war ein kleines Kind gewesen, doch der Tod war mir bereits vertraut. Also wie hatte ich ihn dazu bringen können, weiterhin mit dem Feuer zu spielen? Hatte ich gesehen wie sehr er ein Teil davon bleiben wollte oder war ich einfach nur trotzig gewesen? Vermutlich war ich am Ende doch nicht so selbstlos, für wie mich alle immer hielten. Womöglich, war ich einfach nur eine Egoistin.

Meine linke Hand hob sich wie von selbst an die Wange meines Bruders. Ich fuhr kurz darüber, wie so oft, aber es fühlte sich anders an als sonst. Irgendwie ... eben seltsam. Richtig, falsch, gut, schlechte, alles zusammen und nichts davon. Leise seufzend zog ich meine Hand zurück und wandte mich wieder von Leo ab. Müde schloss ich die Augen, in der Hoffnung etwas Schlaf zu finden.

Mitten in der Nacht wachte ich auf, weil mir plötzlich viel zu heiß war. Geträumt hatte ich nicht, was äußerst ungewöhnlich war. Vielleicht hatte ich es nur vergessen? Doch dann wäre Leo wach. Er würde leise auf mich einreden, so wie er es dann immer machte. Stattdessen hörte ich dicht an meinem Ohr tiefe Atemzüge. Zu dicht an meinem Ohr. Als ich realisierte, wovon mir so warm war, wurde mein Gesicht heiß und ich hatte das Gefühl, als hätte ich plötzlich hohes Fieber.

Ich lag auf der Seite, ein Bein vor mir angewinkelt, das Andere gerade ausgestreckt. Mein Bruder hatte einen Arm um meine Taille gelegt und hielt mich fest an sich gepresst. Sein warmer Atem streifte meine Halsbeuge entlang und eins seiner Beine war um mein ausgestrecktes gewickelt. Wieso lag er so dicht bei mir? Das war noch nie passiert. Für gewöhnlich blieb jeder auf seiner Seite und schlief für sich, höchstens mit einem Kissen im Arm, aber nicht mit dem Anderen.

Umständlich versuchte ich mich zu befreien, in dem Bemühen Leo dabei nicht aufzuwecken. Als ich seinen Arm beinah los war, regte er sich. Ich hörte auf und hielt den Atem an, als wäre ich bei etwas erwischt worden. Er schlang den Arm wieder um mich und schob die Hand zwischen meine Seite und die Matratze. Ein beklemmendes Gefühl, als würde ein Elefant auf meiner Brust sitzen, stieg in mir auf und machte mir das Atmen schwer. Um eine Panikattacke zu vermeiden, atmete ich tief ein und aus.

„Was hast du?", murmelte es leise neben meinem Ohr.

Erschrocken hätte ich beinah einen spitzen Schrei ausgestoßen, doch ich biss mir auf die Zunge und flüsterte:

„Ich bekomm kaum Luft.", erklärte ich mit erstickter Stimme.

„Tut mir Leid", antwortete er und lockerte seinen Griff einwenig.

Los ließ er mich nicht. Er bewegte seinen Kopf kurz auf und ab, ehe er mit langsamen Atemzügen wieder davon driftete.

Ich schaute kurz zur Decke und knirschte mit den Zähen. Ich fühlte mich im Grunde gut. Sicher, geborgen. So wie immer, wenn ich bei ihm war. Dann wusste ich dass mir nichts passieren könnte, selbst wenn ein Orkan ausbräche, er würde mich beschützen.

Aber die Situation war ... falsch. Oder bildete ich mir wieder wirres Zeug ein? Konnte mein Bruder mich nicht einfach im Arm halten, ohne das ich, weiß der Teufel was, dachte bzw. empfand?

Über mich selbst verärgert schüttelte ich leicht den Kopf, was Leo ein leises Knurren entrang. Grinsend schloss ich meine Augen und schlief kurz darauf friedlich ein. Ohne Albtraum. Ohne Gedanken. Ohne Gefühle. Ohne alles. Da war nur mein erholsamer Schlaf.

Langsam wachte ich auf. Die Sonne schien mir direkt ins Gesicht und machte es mir unmöglich weiter zu schlafen. Blinzelnd öffnete ich die Augen und versuchte mich daran zu erinnern wo ich war. Unvermittelt hob sich eine Hand vor mein Gesicht und spendete meinen Augen Schatten. Ich folgte mit den Augen dem Arm und endete beim Gesicht meines Bruders.

„Morgen", murmelte er verschlafen, obwohl ich sicher war dass er schon länger wach war.

Er lag auf seiner Seite des Bettes, nahm die Hand herunter, drehte sich auf den Rücken und schaute zur Decke hoch.

„Morgen", antwortete ich und riss mich von seinem Anblick los.

Um der Sonne zu entgehen, drehte ich mich auf die Seite, in Leos Richtung, schloss aber wieder die Augen. Am Besten würde ich gar nichts darüber sagen, dass letzte Nacht irgendwie seltsam war. Wir waren Beide gut darin solche Dinge zu umgehen. Nicht das unangenehme anzusprechen und stattdessen lieber so zu tun, als wäre alles gut. Als wäre alles normal.

„Du hast letzte Nacht nicht geträumt", hörte ich ihn sagen.

Einen Moment lang wollte ich mich um eine Antwort drücken, doch dann meinte ich:

„Du sagst das als wäre es etwas Schlechtes", und hob die Decke bis über meine Nase.

„Ich bin nur ... überrascht. Das ist alles", sprach er kehlig weiter und ich spürte, wie er sich bewegte.

Vermutlich hatte er sich von mir weggedreht. Langsam öffnete ich die Augen, in dem Glauben auf einen breiten Rücken zu starren, doch stattdessen schaute ich in zwei strahlend blaue Augen. Am Liebsten hätte ich weggeschaut oder weiter geschlafen, aber das ging nicht.

„Und?", fragte er leise und strich mir die Haare aus dem Gesicht.

„Und was?", erwiderte ich, bemüht mich auf etwas Anderes zu konzentrieren.

„Wie war es traumlos zu schlafen?"

Wir würden also nicht darüber sprechen.

„Angenehm. Lag wohl an ...", ich brach ab.

‚Was soll's', dachte ich und drehte mich auf den Rücken zurück.

Doch dieses Mal schien er nicht mitmachen zu wollen. Er stützte einen Arm auf und legte den Kopf in die Hand.

„An was? Es lag an was Lil?", hakte er nach.

Schmunzelnd schüttelte ich den Kopf. Er hatte immer Lilly gesagt. Immer. Bis vor ein paar Wochen. Seit mein Geburtstag sich näherte, war es selten geworden und er benutzte eher die Kurzform meines Namens. Ich atmete kurz durch bevor ich sagte:

„Vermutlich hatte ich nicht genug Platz, um zu träumen und um mich zu schlagen. Du hast mich zu festgehalten und alles im Keim erstickt."

In Erwartung eines Lachens, grinste ich und schaute zu ihm, doch er sah mich nur ernst an. Mein Lachen erstarb und ich wollte wegsehen. Aber er legte eine Hand auf meine Wange, nur kurz, damit ich ihn weiter ansah und sagte:

„Tut mir Leid."

Forbidden Touch (TNM-#0.5)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt