05.12.2019, 15:19 Uhr

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"Hast du dich noch nie um diese Zeit in Supermärkten umgesehen?" Die Rothaarige schaute mich so an, als hätte ich einen an der Waffel. "Natürlich!" "Also kein Dienstmädchen, das einkauft, vorhanden?" Darauf entfuhr Madelyn ein lautes Lachen. "Dein Ernst? So reich sind meine Eltern auch wieder nicht. Und selbst wenn sie es wären, wären zu geizig, sich eines anzuschaffen." Ich hob beide Augenbrauen. "Du willst mir erzählen, dass du an rot bekleideten Schokomännern vorbei gelaufen bist und nicht gewusst hast, wer spätestens von Anfang November vermarktet wird?" Sie rollte mit ihre Augen. "Sag's mir einfach, Doofus." "Hätte ich ja, bevor du mich mit Doofus angesprochen hast." 

Ich wartete gespannt auf ihre Reaktion. Meine Eltern hätten normalerweise mit ihren Augen gerollt und sich wieder ihren wichtigeren Aufgaben zugewandt. Na ja...was bezeichneten sie nochmal genau als wichtig? Aktuell nicht mich, so viel stand fest. Vorher konnte ich noch meine Schulnoten, den Haushalt, ihren Ruf und manchmal mich selbst dazuzählen. Meine Eltern waren immer sehr beschäftigt gewesen, hatten aber noch Zeit für mich gelassen. Ich hatte verstehen können, dass ich nicht immer Priorität Nummer eins sein konnte, aber wie ich durch einen kurzen Satz mit drei Wörtern mich aus dem Prioritätenhaufen herausmanövriert hatte, war mir immer noch nicht klar. Wäre ich an ihrer Stelle gewesen, hätte ich erst einmal eine Nacht darüber geschlafen, mich im Internet dazu informiert und dafür gesorgt, dass sich meine Tochter alleine und verstanden fühlen würde. Im Prinzip das komplette Gegenteil.

"Hey alles okay?" "J-ja...was soll nicht okay sein?" Madelyn musterte eingehend mein Gesicht, bevor ich den besorgten Ausdruck in ihrem Gesicht und die Träne, die kühl an meiner Wange herunterlief, bemerkte. "Ist es deswegen, weil ich dich Doofus genannt habe?" Sie setzte sich näher zu mir und drückte meinen Kopf zärtlich auf ihre Schulter, bevor sie sanft meinen Kopf streichelte. "Tut mir Leid, wenn ich dich so getroffen habe, ich ging von unseren bisherigen Wortwechseln davon aus, dass du jemand mit einem dicken Fell und einem Verständnis für solchen Humor bist." Komplett falsch gelegen. Meine Stimmung wechselte mehr als das Wetter und mein mentaler Zustand glich dem einer Vase, die jeden Moment in tausend Scherben zerfallen könnte. "Aber wenn du eher sensibel bist, ist das auch okay. Ich kann das verstehen." 

"Es ist Nikolaus morgen." Platzte es aus mir heraus, während ich versuchte, meine Mundwinkel nach oben zu ziehen. Zum Glück funktionierte es besser als ich erwartet hatte. "Ja, irgendwann wäre mir das auch eingefallen. Ich mag diesen Feiertag nicht mal! Zum Teufel damit!" Ihre Augen vergrößerten sich, als ihren harschen Tonfall bemerkte. Daraufhin wurde dieser um einiges leiser, als Madelyn die nächsten Worte aussprach: "Sorry, dass ich laut geworden bin. Ist alles okay bei dir?" 

Nein. Mit größter Sicherheit nicht. "Klar doch. Ich brauche einfach mal einen Moment lang Zeit für mich." Sobald ich wieder hochschaute, sah ich gleich schon das Mitleid in ihren dunklen Augen aufblitzen. Es tat nicht seine versprochene Wirkung, im Gegenteil, es brachte mich dazu, mich schlechter zu fühlen. Schlecht darüber, dass ich der Grund war, warum sie auf einmal traurig war. Konnte ich denn nichts richtig machen? Konnte ich nicht einmal alles runterschlucken? Verdammt, verdammt, verdammt!

"Ich geh mal auf's Klo." Sagte ich in einem gespielt ruhigen und hoffentlich auch beruhigendem Tonfall, bevor ich in Richtung Mädchentoilette rannte. Kaum saß ich in einer verschlossenen Kabinen auf einem Sitz, der wesentlich weniger schmeichelhaft als die weichen Sessel im Aufenthaltsraum war, traten auch schon alle Erinnerungen in meinen Kopf. Bilder der Vorweihnachtszeit 2018 machten sich bemerkbar, liefen vor meinem inneren Auge ab. Mama, die mit mir Plätzchen backte. Papa, der sich immer wieder eins vom Blech klaute und von meiner Mutter daraufhin scherzhaft ausgeschimpft wurde, allerdings nicht ohne eine spitze Bemerkung über seine angebliche Diät zu äußern. Mama, Papa und ich, wie wir zu dritt den Tannenbaum schmückten, wobei mich Papa ermahnte, nicht die Zuckerstangen zu essen, woraufhin Mama und ich ihn mit hochgezogenen Augenbrauen gemustert hatte. Er hatte nur mit den Schultern gezuckt und dann gemeint, dass wir eher die Zimtsternchen essen sollten, da sie besser schmeckten und zu hässlich für den Baum aussahen. Da Tante Gwendolin sie gemacht hatte, konnten wir beide zustimmen und hatten wenige Minuten später mit den Sternen vorm Fernseher gesessen und "Kevin - Allein zu Haus" geschaut, so wie wir es die Jahre davor schon getan hatten. Tja. Und nun hieß es Styx - Allein im Krankenhaus. 

Ich ließ zu, dass mehrere Tränen meinen Augen entwichen, während ich meinen Rücken an die Wand presste und merkte, wie mein Gesicht immer wärmer wurde. Mein Gesicht bettete ich in meinen Händen, während meine Mundwinkel immer mehr nach unten abrutschten und weitere Erinnerungen wie fiese Bienen mehrmals meinem Herzen Stiche versetzten. "Ich hätte niemals erzählen dürfen, ich hätte mich in Jungs verlieben sollen, wie jeder normale Mensch auch!" Flüsterte ich leise vor mich hin, bevor ich innerlich das ausschrie, was ich äußerlich mit voller Lautstärke brüllen wollte, aber nicht konnte. "Wieso bin ich nicht normal? Wieso bin ich ein Alien?" 

Mit jeder Frage schüttelte es mich noch mehr und mein Tränenfluss wurde stärker. Alle aufgestauten Gefühle kamen zum Einsatz. In diesem Moment gab ich einen Scheiß darauf, wer mich hörte. Ich war verdammt nochmal wütend und traurig...zur selben Zeit. Was war los mit mir? Was machte mich so unliebsam? Nur diese verdammte Tatsache, dass ich einfach keinen Jungen, sondern ein Mädchen küssen wollte? Wahrscheinlich hatte auch niemand Verständnis dafür, dass ich diesem einen Mädchen jederzeit vergeben würde, solle sie durch diese Tür marschieren und entschuldigen. Weil ich sie so mochte, wie ich einen Jungen mögen sollte. Weil ich scheiß Lesbe dumm war! Dieses Mädchen hatte mir das genommen, was mir am meisten am Herzen lag: Mein friedliches Zusammenleben mit meiner Familie. Vielleicht war ich so. Dumm. Unliebsam. Nicht normal. Ein Freak. Ich konnte mir so oft Selbstakzeptanz vorleugnen, wie ich wollte. Ich war noch nicht dort angekommen. Und das würde ich auch nie müssen. Weil ich nicht so war! Ich durfte nicht so sein! 

Trotz all meiner Gedanken wusste ich in diesem Moment, dass ich sehr wohl so jemand war. Jemand mit Gefühlen, die sich eben auf dasselbe Geschlecht bezogen und damit ein No-Go für das kleine Kaff waren. "Ich hätte weiterhin lügen müssen..." Murmelte ich leise vor mich. "Weiterhin lügen und alles wäre wieder okay." Vielleicht ja, vielleicht nein. Es wäre eine Mischung aus guten und schlechten Gefühlen gewesen. Während ich mit meiner Familie zurechtgekommen wäre, hätte ich irgendwann eine Zwangsbeziehung mit einem Jungen angefangen. Und trotzdem noch Emilia hinterhergeschmachtet, mit einem schmerzhaften Gefühl in der Herzregion, während sie andere Kerle anbaggern oder sich selbst einen Freund besorgen würde.

Wäre doch nur diese eine Nacht nie passiert... Hätte ich nur weiterhin gelogen, säße ich nicht hier fest. Und damit meinte ich nicht das Krankenhaus. Nein. Mein Gefängnis war mein Kopf. Und der fütterte mich weiterhin mit erniedrigenden Kommentaren über mich selbst, redete mich runter, bis ich mich irgendwann auf den Boden legte, die Augen zuschloss und mir wünschte, nie wieder aufzuwachen. Und damit nie wieder dieses Chaos in meinem Kopf und in meinem Herzen miterleben zu müssen. 



Dezemberwind (GirlxGirl)Where stories live. Discover now