03.12.2019, 07:18 Uhr

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Fragt mich nicht, wie ich es geschafft hatte, jemals einzuschlafen. Vielleicht hatte irgendwann meine Müdigkeit gesiegt und mich dazu gebracht, ins Land der Träume zu fliehen. Dieser Ort war hundertmal angenehmer als die Realität gewesen. Genau deswegen freute ich mich nicht, als ich von meiner vollen Blase geweckt wurde. Voll von was? Ich hatte so einen Klos im Hals gehabt, dass ich nach dem Lesen des Online-Artikels keinen Bissen, geschweige denn Flüssigkeit runtergekriegt hatte. Schockzustand konnte man das nicht mehr nennen, mittlerweile hatte es sich in eine Panik ausgeartet, die in mir drinnen wie ein ungezähmter Stier tobte. 

Mehrmals versuchte ich, mich aus dem Sandsack, auf dem ich im Aufenthaltsraum eingeschlafen war, hinauszuschleppen. Nach dem fünften Versuch ließ ich mich nach hinten fallen. Ganz schlechte Idee! Sobald ich das getan hatte, wurde nämlich der Sandsack mit der Kante eines Schaukelpferds ausgetauscht, das durch das Anstupsen dazu motiviert wurde, meinem Kopf eine Kopfnuss zu verpassen. "Autsch..." Knurrte ich leise, aber nicht wirklich wütend. Vermutlich hatte ich das verdient. Genauso wie eine Ohrfeige, die folgen würde, sobald Madelyn aus ihrem Koma oder was auch immer das war aufwachen würde. 

Ich seufzte frustriert auf, wie hatte ich mich nur in diese Situation hineinmanövriert? Erst wurde ich selbst gegen meinen Willen als lesbisch geoutet und nun vollführte ich ein Fake-Outing einer Fremden, deren Eltern Konversationstherapie - alias die Therapie gegen Homosexualität, deren Methoden streng gegen die Moralität jedes vernünftig denkenden Menschen gingen - unterstützten, nur um als momentan Obdachlose einen Unterschlupf in einem Krankenhaus zu finden? Eine scheußlichere Ironie wie diese konnte es gar nicht geben. Ich fühlte mich wie der schlechteste Mensch auf Erden, da ich mir ausmalen konnte, was wegen meiner selbstsüchtigen Aktion passieren würde: Ein Mädchen würde, so wie ich selbst, ausgerechnet in der Weihnachtszeit von seinen manischen, religiösen Eltern aus dem Haus geschmissen werden. Anders wie bei mir gab es allerdings keinerlei Grund dafür, das Mädchen hatte nichts getan und war vermutlich so hetero wie meine gesamte Realschule. Schluckend vergrub ich meinen Kopf in meinen Händen, um nichts als völlige Dunkelheit wahrzunehmen, aber auch, damit andere, die durch die Glaswände schauen konnten, nicht sehen würden, wie ich langsam, aber sicher, zusammenbrach. Mir war zum Heulen zumute. 

***

Am liebsten würde ich eine Zeitmaschine erfinden und den Erfinder der Konversationstherapie die Meinung geigen, bevor er überhaupt dieses abscheuliche Modell entwickeln konnte. Wie viele Menschen damit gequält werden würden, dass die Homosexualität etwas ganz Natürliches war, genauso wie Heterosexualität. Dass er Leute damit noch mehr in den Selbsthass trieb, als ihnen bei etwas zu helfen! 

In einem deutschen Film namens "Ku'damm 59" hatte ich wieder einmal den Beweis dafür gesehen, warum ich Geschichte bis aufs Übelste hasste und froh war, in der heutigen Zeit geboren worden zu sein. Ein verheirateter Mann hatte einen "Therapeuten" aufgesucht, da er den Verdacht hatte, schwul zu sein. Sein Gegenüber, der mit ihm an einem gigantischen Holztisch saß, zeigte ihm abwechselnd Bilder von provokant angezogenen Frauen und Männern. Sobald er erregt war, würde es die Maschine anzeigen. Da das bei ihm nur bei Männern der Fall war, versetzte ihm die Maschine gleichzeitig einen elektrischen Schlag. Ich hatte bei der Szene weinen müssen, da der Mann so verzweifelt ausgesehen hatte und ich mich nur zu gut in ihn hineinversetzen konnte. 

Sobald ich mir Bilder von attraktiven Frauen oder Mädchen in den Kopf gekommen waren, hatte ich so schnell wie möglich versucht, an etwas anderes zu denken. Zur Ablenkung hatte ich stets Vampire Diaries mit 15 Jahren angeschaut, da es die einzige Serie war, in der ich die männlichen Charaktere teilweise attraktiv fand und das somit als Heterosexualität abstempelte. Ich hatte es nicht wahrhaben wollen, dass ich es damals um einiges verlockender fand, mit Selena Gomez herumzuknutschen als mit Ian Somerhalder. Erstere Person war der Grund dafür, warum ich auf einmal ansatzweise von Pop Musik im Radio begeistert war. Ihre Alben stapelten sich auf meiner Kommode und das Musikvideo von ihrem Lied "Wolves" war vermutlich zu einem meiner meist angesehenen Videos auf YouTube geworden. 

Meine Eltern hatten meine plötzliche Vorliebe für Selenas Musik verwirrt mitverfolgt. "Ich dachte, du magst nur Sachen wie Panic at the club oder wie das auch immer heißt." Hatte sich mein Vater einmal beim Abendessen dazu geäußert, woraufhin ich verlegen erwiderte: "Es heißt "Panic! at the disco", Papa." "Und wieso haben sie diesen Namen?" "Er hat diesen Namen." Nun war auch meine Mutter neugierig geworden. "Also ist es nur eine Person? Aber warum bezeichnet ihn Google als Band?" Und damit hatte sich zum Glück das Thema Selena Gomez für meine Eltern erledigt. 

Meine Eltern hatten alles über mich wissen wollen, hatten bisher jede schräge Vorliebe von mir nur mit einem Schulterzucken kommentiert und mich Fanartikel kaufen lassen. Weswegen gerade meine Sexualität eine Ausnahme und Grund dafür war, mich, die laut ihnen "immer von ihnen geliebt werden würde, egal was auch komme", gewaltvoll aus ihrem Leben zu werfen, war mir ein Rätsel. Mir war es egal, was manche Pfarrer dazu sagten. Mit 16 Jahren hatte ich endlich begriffen, dass das, was ich empfand, keineswegs als Verbrechen, geschweige denn als Sünde angesehen werden sollte. Plötzlich juckte es mich nicht mehr, dass ich nicht in der Lage war, irgendwann mal in einer katholischen Kirche heiraten zu können. Plötzlich waren meine einzige Freunde YouTuber, die sich bereits als LGBT+ - so nannte man Leute, die sich nicht als hetero oder cis, oder beides identifizierten - geoutet und damit auch irgendwie verständnisvolle Brüder und Schwestern, die ich als Einzelkind niemals gehabt hatte. 

Meine Freundschaft zu Emilia, einem relativ beliebten Mädchen, riss entzwei, sobald sie von meinen Gefühlen zu ihr erfuhr. Es dauerte keine Wochen, bis meine Eltern durch sie davon Wind bekamen und mir die gefürchtete Frage, die ich mir seit meinem zwölften Lebensjahr gestellt hatte: "Bist du lesbisch?" 

Was danach passiert war, schrieb ich erstmal nicht in mein Tagebuch. Ich wollte nicht noch mehr Tränen vergießen, noch wollte ich, dass sich das Szenario noch einmal bildlich vor meinem inneren Augen abspielte. Meine Gefühle standen momentan an letzter Stelle. Mir war nämlich eines klar geworden: Meine letzte Chance, Madelyn vor einem ungewollten Outing zu retten, war, zu verhindern, dass die Angestellten des Krankenhauses ihren Eltern vom Unfall berichteten. Wie ich meine Geschichte abwandelte? Darüber würde ich mir später den Kopf zerbrechen. Vorerst galt es, Madelyn aus dieser verzwickten Situation herauszuhelfen! 




Dezemberwind (GirlxGirl)Where stories live. Discover now