1. Kapitel

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,,Samara Bennett!"
Als ich nicht antwortete, rief meine Mutter zornig: ,,Samara, wo bist du? Du musst dich für den Ball fertigmachen! Dein Vater und ich erwarten deine Anwesenheit!" Statt mich, wie meine zwei Schwestern auf den Großen Ball, der jedes Jahr von Lord und Lady Greenfield veranstaltet wurde, vorzubereiten,
hatte ich mich in mein Versteck in der alten Scheune gegenüber von unserem Haus zurückgezogen. Das war der einzige Ort auf dem ganzen Grundstück, an dem ich wirklich Ruhe und etwas Zeit für mich finden konnte. Alle anderen liebten Bällen und redeten bereits seit Wochen über den Großen Ball, doch ich konnte einfach nicht verstehen, was die Leute daran erfreute sich mit gezwungener Freundlichkeit mit einander über irgendwelche Nichtigkeiten zu unterhalten oder sich stundenlang auf der Tanzfläche von irgendwelchen selbstverliebten Männern auf die Füße treten zu lassen und dabei so zu tun, als mache einem das Ganze auch noch Spaß. Auf solchen Bällen konnte ich nicht ich selbst sein, sondern musste mich der Gesellschaft anpassen. Ich kam mir immer wie auf einem Maskenball vor, bei dem die Gesichter selbst die Masken sind. Ich hatte darüber nachgedacht den ganzen Abend hier in der Scheune zu bleiben und zu lesen, doch das wäre keine Lösung, sondern würde nur Fragen aufwerfen. Also legte ich mein Buch zur Seite und huschte schnell, sodas niemand bemerkte, dass ich aus der Scheune kam, ins Haus.
,,Samara, wo warst du denn die ganze Zeit? Aber das spielt jetzt auch keine Rolle mehr, deine Schwestern sind schon fast fertig. Beeil dich, wir dürfen nicht zu spät kommen!", sagte meine Mutter hektisch und versuchte sie erfolglos eine Kette umzulegen. Ich stellte mich hinter sie und nahm ihr den Verschluss ab. Nachdem ich ihn zugemacht hatte, eilte sie mit einem dankbaren Lächeln weiter. Meine Mutter war eine wunderschöne Frau, doch das Alter holte sie langsam ein. Immer wieder begannen ihre Hände zu zittern oder sie musste sich plötzlich hinsetzen. Sie meinte immer es wäre nur das Alter, doch ich wusste, dass das nicht die ganze Wahrheit war. Aus Tapferkeit und vielleicht auch aus Stolz ließ sie sich jedoch nie etwas anmerken.
Ich verdrängte diese Gedanken und ging die Treppe hinauf in das Ankleidezimmer meiner Schwestern und mir. Alice, meine jüngere Schwester war 16 Jahre alt und meine ältere Schwester, Joanne, war 19 Jahre alt und bereits mit dem angesehenen Offizier Lewis verlobt. Ich selbst war die Zweitgeborene und 17 Jahre alt.
,,Deine Kleid hängt schon an der Garderobe. Anna, hilf Samara bitte in ihr Kleid und beeil dich, wir müssen bald los!", sagte Joanne ohne sich zu mir umzudrehen, während sie sich ihre Ohrringe ansteckte. Anne kam mit meinem Kleid auf mich zu. Sie war unsere Zofe und ungefähr in unserem Alter. Im hinteren Teil des Zimmers befand sich ein, mit bunten Blumen bemalter, Paravent hinter dem ich mir mit Annas Hilfe mein altes Kleid auszog, dessen Saum mit Schlamm bedeckt war. Als Anna mir das Korsette anlegen wollte, hielt ich abwehrend die Hände vor meinen Körper und sagte: ,,Das letzte Mal hat es mir die Luft so sehr abgeschnürt, dass ich beinahe in Ohnmacht gefallen wäre."
,,Aber Ihre Mutter besteht darauf, Lady Samara", antwortete Anna schüchtern. Ich mochte es nicht, mit Lady Samara angesprochen zu werden, es fühlte sich immer so falsch und unnatürlich an. Ich hatte Mutter schon mehrmals gefragt, ob es wirklich notwendig sei und jedes Mal erhielt ich die gleiche Antwort: Es schickt sich nicht. Wer bestimmte denn, was sich für mich schickt, wenn nicht ich? Auf solche Fragen bekam ich grundsätzlich keine Antworten.
,,Das ist doch noch ein Grund mehr es nicht zu tun, oder was meinst du Anna?", sagte ich, da ich genau wusste, dass Anna auch nicht immer mit den Anweisungen meiner Mutter einverstanden war, doch trotzdem beschwerte sie sich nie. Anna erledigte ihre Aufträge schnell und leise, sie war die perfekte Zofe.
,,Ich denke Ihre Mutter wäre sehr erzürnt darüber", antwortete sie vorsichtig. Normalerweise wäre es mir egal, was Mutter befohlen hatte, doch ich wollte Anna nicht in Schwierigkeiten bringen, denn Mutter würde sicher ihr die Schuld geben. Also sagte ich seufzend: ,,Du hast wahrscheinlich recht. Aber binde das Korsett nicht zu fest."
,,Jawohl, Mylady."
Das Kleid bestand aus weichem, grünen Stoff mit zahlreichen Verzierungen in Gold und diversen Grüntönen. Bis zur Taille war es eng geschnitten, doch dann fiel es in einem weiten Rock bis zum Boden. Als es an der Garderobe gehangen war, fand ich es noch sehr schön, doch nun fühlte ich mich wie in einem Kostüm und mein gezwungen lächelndes Gesicht war die dazu passende Maske.
Als ich hinter dem Paravent hervortrat, wandten sich Alice und Joanne mir zu.
,,Du siehst wunderschön aus, Schwesterherz", meinte Joanne lächelnd. Sie selbst trug, passend zu ihren blauen Augen ein hellblaues Kleid mit silbernen Stickereien. Ihr blondes Haar hatte sie hochgesteckt, nur vorne hatten sich einzelne Strähnen gelöst.
,,Du siehst noch tausendmal schöner aus, meine liebe Joanne. Mr. Lewis kann sich wirklich glücklich schätzen, dich an seiner Seite zu haben."
,,Ich wette er wird dich heute Abend keine Sekunde aus den Augen lassen", mischte sich nun auch Alice in die Unterhaltung ein. Alice hatte ein eher schlichtes, dunkelrosa Kleid und dazu silberne Schuhe an. Sie hatte ihre schulterlangen haselnussbraunen Haare ebenfalls hochgesteckt und musterte mich jetzt mit ihren warmen, braunen Augen.
,,Samara, heute werden sicher alle Männer vor dir auf die Knie fallen und um deine Hand bitten. Vater wird einiges damit zu tun haben, sie alle wieder loszuwerden", wandte sie sich nun an mich. Darüber mussten wir alle drei lachen, ich mehr über die Absurdität dieser Aussage. Immer noch lächelnd kam Joanne auf mich zu und steckte die vordere Partie meiner dichten, schwarzen Haare mit einer goldenen Klammer hinten fest, die restlichen vielen mir leicht gelockt über die Schultern.
,,Jetzt siehst du perfekt aus."
,,Wahrlich, ihr seid wahre Schönheiten, mich würde es nicht wundern, wenn morgen eine Schlange von Verehrern vor der Tür stehen würde. Aber jetzt schnell, eure Mutter wartet bereits in der Kutsche", sagte Vater, der plötzlich in Türrahmen stand. Normalerweise konnte ich mich auf Vater verlassen, wenn es darum ging, sich vor einem Ball zu drücken. Er war der Einzige, der mich verstand und schon von klein auf dabei unterstützt hatte, lesen, schreiben, rechnen und alles über die Erde und das Universum zu lernen. Vater erkannte, dass ich nicht wie die anderen Mädchen war, doch im Gegensatz zu den anderen begrüßte er das. Er wusste, dass ich die Welt erst dann verstehen konnte, wenn ich alles über sie wusste.
Wir folgten ihm die Treppe hinunter zur Haustür. Alice und Joanne waren schon auf dem Weg zur Kutsche, als er mich aufhielt.
,,Samara, Liebes, es bedeutet mir und deiner Mutter wirklich sehr viel, dass du uns heute auf diesen Ball begleitest. Du sollst wissen, wir werden dich immer lieben, egal was passiert."

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