Verzweiflung im Chaos.[18]

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Ciel ging durch seine sonst so ordentliche Wohnung und hob wieder einmal die Sachen von seinem Bruder vom Boden auf oder rückte eines der vielen Kissen auf seiner Couch zurecht. Er hasste Unordnung, sie stresste ihn einfach, er spürte jetzt schon wieder dieses kribbeln in seinen Fingerspitzen, dass sich langsam ausbreitete und seine ganze Hand befallen würde, wie ein ekelhafter Virus.

Er schob die dreckigen Sachen in die Waschmaschine und drückte ein paar leuchtende Knöpfe, damit sie endlich startete und den Dreck von der Kleidung wusch. Schon seit drei Tagen wohnte sein Bruder jetzt schon bei ihm und langsam nervte er ihn wirklich. Cole befolgte nie seine Anweisungen, immer kam er mit dem Argument, dass er der Ältere sei und somit das Sagen hatte, aber sie waren doch in Ciels Wohnung, musste der Größere nicht somit auf ihn hören?

Wegen Cole war er am Freitag auch nicht bei seiner Therapeutin gewesen, sie machte sich bestimmt schon sorgen, dachte er hätte sie vielleicht sogar vergessen oder versetzt und dies wollte er nicht. Gestresst fuhr er sich durch die braunen Haare, die er sich gestern erst neu gefärbt hatte, -jetzt waren sie ein wenig dunkler und versuchte sich zu beruhigen. Er durfte nicht durchdrehen, was ist wenn Cole einfach durch die Haustür spazieren würde, wenn er sich gerade in den Arm Schnitt. Nein, er könnte es nicht hier machen, er hatte ihn ja versprochen damit aufzuhören, aber sein Bruder wusste einfach nicht wie schwer das für ihn war.

Seine Hände zitterten schon und er merkte, wie sein Kopf danach schrie es endlich zu tun, nur ganz kurz, nur einen Schnitt. Sollte er diese Tabletten wieder nehmen? Sollte er sich wieder diesen Schmerzen aussetzen? Nein, er war nicht krank, er bräuchte das nicht, er schafft es schon ohne.

Wild lief Ardy umher, räumte etwas an eine andere Stelle, einfach weil es ihn gerade störte, wie es stand. Er musste sich ablenken, an etwas anderes denken.

Er versuchte es mit tiefen Atemzügen, oder einen weiteren Pfefferminztee, aber es wollte nicht so recht klappen. Mittlerweile schmerzten seine zarten Hände schon, als er über das warme Porzellan seiner Tasse strich.

Er hielt es nicht mehr aus, er muss es tun, es geht nicht anders. Trotz seiner schnellen Atmung, hatte er das Gefühl nicht mehr atmen zu können und mit bebenden Gliedern lief er auf die Schublade mit den vielen Messern zu, die so einladend da lagen. Er griff nach einem, ging in die Mitte des Raumes und schloss seine braunen Augen, mit der grünen Umrandung.

Er führte die Klinge zu seinem Hals, sein Bauch kribbelte vor Aufregung und seine Hände fingen an, zu schwitzten. Auch sein Herz klopfte schnell gegen seine Brust, er war wieder auf einem Tripp, er bekam nicht einmal mit, wie er mit dem Messer fest über seine blasse Haut strich.

Er hörte dieses rauschen in seinen Ohren, es wurde immer lauter, fast unerträglich. Vor seinen geschlossenen Augen konnte er es sehen, das Meer, die Wellen brachen immer wieder zusammen und das Wasser berührte seine Füße. Er atmete tief ein, er konnte wieder atmen, bekam wieder Luft. Er fühlte sich frei, als könnte er fliegen.

„Ciel?" er hörte ihre liebliche Stimme, so schön und klar, dass ihm die Tränen kamen. "Ja, Mel?" flüsterte er leise, so als wäre sie hier, als würde sie wahrhaftig neben ihm stehen und ihn rufen. "Ciel, weh?"  er öffnete schlagartig seine Augen, sie waren gefüllt mit Tränen. Er wusste ihren Namen, er wusste ihn klar und deutlich, er lag ihm die ganze Zeit schon auf der Zunge und jetzt hatte er endlich auch seine rosanen Lippen verlassen.

Ciel glitt zu Boden, ganz langsam, ganz vorsichtig tat er es. Seine Knie kamen auf dem Boden auf und er sackte in sich zusammen. „Es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid Malia, meine geliebte Schwester." er war zerbrochen, ein weiteres mal, war er in winzige Teile zersprungen, die irgendwo ihm Dreck landeten, wo schon viele andere zu sehen waren. Wie oft konnte er dies noch stand halten, bis alles in ihm zerriss?

Er spürte das Blut an seinem Hals, spürte wie es runter floss und sein Shirt verdreckte. Man hörte auch sein leises schluchzen, ganz still und heimlich, hallte es durch den Raum, so als hätte es Angst, von irgendjemanden gehört zu werden. Er vergrub sein Gesicht in seinen Händen und schüttelte mit dem Kopf.

Er bereute es, er bereute, was er eben wieder mit sich angestellt hatte. Er wollte es doch nicht mehr tun, er wollte dem ganzen doch stand halten. Seine Finger kribbelten noch ein wenig, aber schon in wenigen Sekunden würde es abklingen, als wäre zuvor nichts geschehen.

Mit seinen rauen, dünnen Fingern fuhr er zu seinem Hals und strich ganz sachte, über den Schnitt. Er ließ seine Schultern hängen, drückte sie nicht durch wie er es sonst immer tat und blieb einfach sitzen. Still, regungslos. Sein Mund wollte schreien, doch seine Kehle gab keinen einzigen laut von sich, so wie sonst immer, als er es sich wünschte. Er fühlte sich so leer, so wie damals als er die Medikamente untergejubelt bekommen hatte. Die Stücke seiner selbst fielen vom Hochhaus, ganz unauffällig, bis sie erneut auf den Boden aufkommen würden und noch einmal zerbrechen würden.

Plötzlich durchbrach ein leises klimpern die Stille und ein paar Schritte waren zu hören. Noch immer lag die Hand des Kleineren an seinem Hals und er schien sich nicht zu kümmern, wer seine Wohnung betrat. Er bleib einfach da sitzen, auf dem kalten Boden und starrte an die weiße Wand.

„Ciel, ich hoffe es ist okay, dass ich einen Freund mitgebracht habe." ertönte die Stimme Coles und der soeben genannte wollte sich bewegen, sich irgendwie regen, aber es ging nicht, seine Glieder waren zu schwer und seine Augen brannten zu sehr von den Tränen die ihm noch immer über die Wangen liefen. "Gott, Ciel!" mehr bekam er nicht mehr mit, denn alles was er hörte war wieder dieses beruhigende rauschen und alles was er sah, war dieses unendliche blau des Meeres. Es war schön hier.

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Lesenacht 9/10

𝐓𝐞𝐚. || [boyxboy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt