Der Edelstahltisch

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Zwei Stunden später wache ich auf und fühle mich als sei mir im Schlaf ein Elefant auf den Kopf getreten. Ich habe jetzt das Bedürfnis jemanden aus meiner Familie anzurufen. Während Anna etwa jede Stunde einen Hotspot braucht um ihrer Mutter einen detailgenauen Statusbericht über ihr Wohlbefinden abzuliefern, werde ich mich jetzt zum ersten Mal zu Hause melden.
Ich robbe schlaftrunken über mein Bett und taste nach meinem Smartphone. Irgendwo hatte ich das blöde Ding doch hingeworfen. Als ich den Flugzeugmodus nach Tagen noch einmal ausschalte, treffen etwa hundert Nachrichten auf einen Schlag ein. Und ein halbes Dutzend verpasster Anrufe von unbekannten Nummern. Oha, wer will denn jetzt so dringend was von mir?
Doch die Frage wird schnell beantwortet, denn plötzlich treffen von drei verschiedenen Nummern SMS ein:
- "David, Anna ist in Schwierigkeiten und braucht SOFORT deine Hilfe, melde dich und geh an dein Handy!"
- "Anna wartet im Hostel auf dich und ist krank und ihr Handy ist kaputt, du musst ihr sofort helfen."
- "DAVID???? MELDE DICH!!! Wo steckst du? Anna hat Angst und ist ganz allein. Ich mache mir Sorgen!"

Und auch wenn die Absender sich nicht vorstellen ist mir schon klar, dass das vermutlich ihre Mutter und ihr Freund sein müssen.
Ich werfe mein Handy zurück aufs Bett und gehe aufgebracht in meinem Zimmer auf und ab. Bevor ich eingeschlafen bin erschien mir alles noch so einfach. Ich hatte mir fest vorgenommen Anna ihrem Schicksal zu überlassen. Doch jetzt wo ich nicht mehr so überreizt bin, bekomme ich doch irgendwie ein schlechtes Gewissen. Was wenn Anna tatsächlich in Schwierigkeiten steckt?
Sie hatte mir oft genug gesagt, wie wenig sie sich vorstellen kann alleine unterwegs zu sein und Hanoi war mit Sicherheit auch nicht der sicherste Ort der Welt. Auf der anderen Seite hatten wir schon jüngere Frauen hier getroffen, die ebenfalls alleine zurecht kamen.
Ich frage mich, was eine schlauere Version von mir jetzt wohl tun würde. So eine Art David 2.0, der immer genau weiß, wo es langgeht. Diese Situation war einfach zu vertrackt für mich.
Ich verlasse mein Hotelzimmer um einen klaren Kopf zu bekommen. Doch das klappt nicht so recht, denn draußen erwartet mich wieder das Chaos der Großstadt. Mein Handy vibriert weiterhin alle paar Sekunden, weil entweder Freund, Mutter oder der Nikolaus mir panische Nachrichten senden.
Außerdem kommen mir ganz komische Gedanken. Ich stelle mir vor, wie ein schwarzer Lieferwagen in Schrittgeschwindigkeit neben Anna fährt. Hinter dem Steuer ein Triade, der von seinem Boss einen Auftrag bekommt.
"Wie wäre es, wenn diesem kleinen Blondchen heute Abend ein Unfall zustößt?", sagt dieser mit dem Grinsen einer Kanalratte. Doch der dumme Triade schaut verständnislos.
"Bei allem Respekt Boss, wir sollten nicht warten, bis ihr tatsächlich ein Unfall passiert. Wir sollten sie viel lieber selber entführen." ^^
Und kurze Zeit später liegt Anna dann auf einem Edelstahltisch im Keller eines italienischen Restaurants. In meiner Vision läuft sogar noch Blut die Wände runter. Und sie ist als nächste dran. Alles nur wegen mir.

Scheiße, mir bleibt wohl keine Wahl.
Ich muss zurück.

Ich stürze mich in den nicht enden wollenden Strom aus Motorrollern. Es ist nicht leicht unser Hostel wieder zu finden, denn es dämmert schon und die Stadt verwandelt sich immer mehr in ein Meer aus rasenden Lichtern. Doch nach dreißig Minuten bin ich zurück und betrete unser Zimmer.
Anna liegt im untersten Teil eines Hochbettes. Davor hängen einige ihrer Sachen als Sichtschutz. So vorsichtig als ob ich eine Bombe entschärfen will schiebe ich zwei Handtücher zur Seite und sehe sie da liegen. Irgendwie erinnert sie mich an Graf Dracula in seinem Sarg. Eingefallene Wangen, blasses Gesicht, wirres Haar. Nur ihre Augen passen nicht ganz in das Bild. Denn die schauen tränenverschmiert ins Leere.
"Hallo Anna", sage ich und setze mich auf mein eigenes Bett.
"Hallo David", antwortet sie kaum hörbar, "danke, dass du zurück gekommen bist."
Ok, ich war auf alles gefasst gewesen. Auf eine keifende Muhme Rumpumpel, die versucht mir die Augen auszukratzen, auf ein wildes Monstrum, was mich mit einem Kleiderbügel verprügeln möchte oder auf Schlimmeres. Doch mit einem Dankeschön habe ich nicht gerechnet.
Und das rührt mich jetzt irgendwie.
"David, ich will dir was erzählen", sagt Anna und spricht dabei so leise, dass ich sie kaum hören kann. Es folgen einige Ausführungen über schwere Sachen, die sie erlebt hat. Schwerere als ich sie hätte ertragen können.
Ihre Erzählung endet folgendermaßen: "David ich kann hier nicht alleine sein. Ich schaffe das nicht. Ich kann niemals alleine in einem Zimmer hier schlafen. Das geht einfach nicht. Bitte, bitte, bitte bleib bei mir. Ich habe solche ANGST."
Ich muss darüber etwas nachdenken, doch eigentlich hätte sie mir ihre Geschichte gar nicht erzählen müssen. Schon ihr Anblick hat mir klar gemacht, wie wenig es noch in Frage kommt ohne sie weiter zu reisen.
"Ok", sage ich schließlich, "lass mich nur kurz zurück ins Hotel gehen und meine Sachen holen. Ich habe auch auf dem Weg hier her ein Geschäft gefunden, wo Du Dir ein neues Handy kaufen kannst. Das wird schon wieder."
Anna will jetzt noch von mir umarmt werden und alles scheint gut zu sein zwischen uns. Und tatsächlich ist sie heute die freundlichste Person der Welt.

Hätte ich zu diesem Zeitpunkt gewusst, was noch passieren würde, ich hätte Anna gnadenlos zum nächsten Flughafen gebracht.

Albtraum Im DschungelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt