|8| Oktoberschnee

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Nichts weiter als das Geräusch von Stiefeln auf dem Steinboden. Stiefel, die zu dem Mann gehören mussten, dem dieses respektvolle Schweigen galt. Den Blick stur auf den Boden gerichtet, untersagte ich mir zu auffällig, in seine Richtung zu sehen oder mich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Nein, ich würde einfach warten, ohne jegliche Aufmerksamkeit zu erregen. Denn das war schon seit Jahren das Schlechteste, das man als Jude tun konnte – aufzufallen. 

Dann erklang die Stimme des Gesichtslosen. Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte: Vielleicht tatsächlich das Pathos eines Theaterstücks oder zumindest Bedeutungsschwere in den Worten. Doch weder das eine, noch das andere traf zu. Er sprach nicht laut, nur durch die Stille und die nicht allzu große Distanz überhaupt hörbar, und dabei nichts weiter Außergewöhnliches.
„Der Transport kommt reichlich spät."

Es schienen zu banale Worte für diesen Moment; ein Eindruck, den die Gereiztheit in der dunklen Stimme noch verstärkte. Alles daran war zu gewöhnlich im Angesicht dieser Hölle und damit doch wieder erschreckend passend für diese Menschen – bei ihnen gingen geradezu lächerliche Selbstdarstellung und Banalität Hand in Hand. Für sie war die Lüge zur Wahrheit und die Unmenschlichkeit zur Alltäglichkeit geworden und vereinten sich zu der grotesken Essenz, die ihre Ideologie ausmachte.

Ich versuchte, unauffällig einen Blick auf diesen Mann zu erhaschen, erkannte jedoch nur vage Stiefel und Mantel neben dem stoischen SS-Mann, der uns vor dem Zug empfangen hatte.
„Es scheint zu Komplikationen in Litzmannstadt gekommen zu sein, Herr Standartenführer", antwortete dieser völlig verändert. Der ruhige Befehlston war von ihm abgefallen, ebenso wie seine Gleichgültigkeit. Beides ersetzte eine merkbare Untertänigkeit, wie die eines Lakaien, der besorgt den Zorn seines Herren witterte.

Standartenführer, wiederholte ich in Gedanken. War das etwas Wichtiges?
„Die Bilanz?", fragte jener Standartenführer.

„Gesamtstärke 354 von ursprünglich 360. Vier bei der Ankunft unbrauchbar. Ein weiterer auf dem Wege dorthin, jedenfalls wohl nicht arbeitsfähig, Herr Kommandant", meldete nun ein an Heinrich Himmler erinnernder SS-Mann mit dem Unterton unverhohlener Arroganz eines Menschen, der wichtig war oder sich zumindest dafür hielt. Er musste in der Hierarchie hoch stehen. Wäre er nicht hier, hätte das durch seine piepsige Stimme, die jetzt zu einer ausschweifenden Erklärung anhob, komisch gewirkt. So fragte ich mich nur, wie sehr man ihn fürchten musste.

„Und der sechste?", unterbrach der Kommandant.
Er rückte seine runde Brille zurecht. „Fluchtversuch, gerade eben."
Mir wollten sich wieder die Bilder von zuvor aufdrängen. Mantel, Mann, gestreifte Kleidung, lebloser Körper, Hut, weinende Frau – Frau ... was wurde aus der Frau?
Sieh nach vorne!

Ich tat es und erkannte nun endlich, wer da neben dem anderen SS-Mann stand und diese wie eine frische Wunde brennenden Erinnerungen an etwas Grauenhaftes, das ich vor mir nicht zu benennen wagte, mit einem schlichten „Ach, daher der Schuss" zusammenfasste. Zwischen den Frauen vor mir kam eine hochgewachsene, schlanke Gestalt in feldgrauem Mantel zum Vorschein und schließlich hinter einem Taschentuch, das eine behandschuhte Hand merkwürdig lange dort verharren ließ, sein Gesicht. Über einem Paar düsterblauer Augen wölbten sich die dunklen Brauen leicht zusammengezogen wie in einem Ausdruck stetigen Missfallens und legten damit die Stirn in zarte Falten, die im Alter bleiben und sich vertiefen würden. Es verlieh seinem gefühllosen Blick etwas Finsteres. 

Die Härte der Züge nahm jedoch nach unten hin ab – zwischen den scharfkantigen Wangen teilte eine gerade, feingeschnittene Nase das Gesicht; die Lippen darunter waren sanft geschwungen und das Kinn schmal.
Außer den scheinbaren Gefühlen, die alleine die natürlichen Formen hineinschrieben, verriet es keinerlei Regung. Sein Gesicht war eine ausdruckslose Maske.
Die der anderen um ihn herum zeigten von hündischem, pflichtbewusstem bis stolzem Gehorsam jegliche Schattierung der Unterwürfigkeit.

Blut und TinteWhere stories live. Discover now