Truth or Dare - Heimliches Verlangen

Hailey

"Wahrheit oder Pflicht, Hailey?", fragte Grayson schelmisch. Er saß ihr gegenüber auf einer der dunkelbraunen Ledercouches im Gemeinschaftsraum des Elite-Internats von Hastings. Ihr war durchaus bewusst, dass es für sie momentan nur eine Antwort auf diese Frage gab, da sie bereits die letzten drei Runden alle Fragen wahrheitsgemäß beantwortet hatte, die ihre Mitschüler ihr unter neugierigen und sensationslustigen Blicken gestellt hatten.

"Pflicht, schätze ich", antwortete sie seufzend und nippte an dem kunstvoll verzierten Glas, das mit einem ziemlich ungenießbaren Gemisch aus Rum und Cola gefüllt war. Sie saßen zu siebt verteilt in dem geschmackvoll eingerichteten Raum und vertrieben sich bereits seit mehr als einer Stunde die Zeit mit diesem Spiel. Je später es wurde und je mehr sie getrunken hatten, desto heikler wurden natürlich auch die Aufgaben, die sie sich für ihre Mitstreiter überlegten. Hailey war froh, dass die kreisende Flasche auf dem Tisch in der Mitte sie eine Zeit lang verschont hatte, aber jetzt konnte sie sich leider nicht länger davor drücken, ihren Auftrag entgegenzunehmen.

Dummerweise war es ausgerechnet Grayson, der nun die volle Macht über sie hatte. Er hatte wie immer am meisten von allen getrunken und auch im bisherigen Spielverlauf die unangebrachtesten Dinge verlangt, wenn er am Zug war. Kein Wunder, dass ihm sein Ruf als Aufreißer bereits weit vorauseilte. "Hm, jetzt muss ich mir aber etwas besonders Gutes einfallen lassen", erwiderte er grinsend, während er sich nach vorn lehnte und sein Kinn in seine Hände bettete. Eindringlich starrte er sie aus seinen graublauen Augen an. "Es gibt kaum etwas Verbotenes, was du noch nicht getan hättest", stellte er grinsend fest, nachdem er ein paar Sekunden darüber nachgedacht hatte.

Er hatte natürlich nicht ganz unrecht damit. Seit ein paar Monaten hatte Haileys Image sich von der vorbildlichen Schülerin immer mehr hin zu einem Problemfall für die Schulleitung entwickelt. Es gab seitdem kaum einen Skandal, der nicht mit ihrem Namen in Verbindung gebracht werden konnte. Verkatert im Unterricht zu sitzen oder gar nicht erst dort zu erscheinen wäre für die alte Hailey undenkbar gewesen, seit dieses Vorfalls stand es für sie jedoch beinahe an der Tagesordnung. Grayson war wohl einer der Wenigen, die von ihrem neuen Ich regelrecht begeistert waren. Im Gegensatz zu ihren besten Freunden, die ihretwegen sehr besorgt waren, hatte der Dunkelhaarige offensichtlich große Freude daran, ihren Abstieg zu beobachten.

"Okay, ich bin soweit. Das schlägt so schnell keiner!", verkündete er siegessicher. Hailey sah ihn mit einem fragenden Blick an. "Na, was hast du dir so Grandioses überlegt, Bradshaw?", erkundigte sie sich skeptisch; überzeugt davon, dass seine Idee bei seinem momentanen vernebelten Verstand nicht wirklich brilliant sein konnte. Er grinste über das ganze Gesicht und seine perlweißen Zähne blitzten im schummrigen Licht der Flammen aus dem alten, steinernen Kamin.

"Du wirst...", begann er und legte eine dramatische Pause ein, um jedem der sechs Mitspieler noch einmal nachdrücklich in die Augen zu blicken. "Jetzt spuck's schon aus, wir haben nicht die ganze Nacht Zeit", drängte Cam, Graysons bester Freund, ihn dazu, endlich zum Punkt zu kommen. Er stieß Grayson den Ellenbogen kameradschaftlich in die Rippen, welcher sich daraufhin theatralisch krümmte. "Also gut, ich werde keine Zeit mehr verlieren!", verkündete Grayson und wandte sich nun wieder direkt an Hailey. "Ich habe für dich die Aufgabe auserkoren, deine Schulakte aus Mrs. Carlyles Büro zu entwenden."

Sie sah ihn ungläubig an. "Du weißt, dass ich das nicht machen kann", versuchte sie, ihn nachdrücklich zur Vernunft zu bringen. Er wusste genau, wieso sie das unmöglich riskieren konnte. Er war der Einzige, der ihr Geheimnis kannte und darüber in Kenntnis sein musste, dass ein Rauswurf aus dem Internat das Schlimmste war, was ihr im Moment passieren konnte. "Grayson, bitte, such dir eine andere Aufgabe aus. Irgendwas - ich mache alles, was du willst, aber das geht wirklich nicht!", verlangte sie eindringlich. Er blickte sie nur aus verklärten Augen an. Sie hätte wissen müssen, dass das nicht gut ausgehen konnte. Grayson war viel zu betrunken, um sich daran zu erinnern, was vor wenigen Monaten zwischen ihnen vorgefallen war.