Nacktsein (Teil 3/4)

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»Hör zu, Kleine. Hau ab. Wenn nicht, geschieht hier gleich ein Unglück.«

Man darf keine Angst davor haben, nackt zu sein , hallte Onkel Flossies Stimme in Linas Ohren nach.

Ihre Hand schnellte nach vorne. Sie bekam Axels glatten Hals zu fassen. So fest sie konnte, drückte sie zu.

Axel begann zu röcheln, er verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden.

Ohne zu zögern, trat ihm Lina mit voller Wucht in die Weichteile. Er stieß ein helles Geräusch aus und versuchte, sich zu einer embryonalen Haltung zusammenzurollen, aber Lina legte sofort nach. Diesmal erwischte sie ihn mit dem Turnschuh am Kinn.

Blitzschnell fuhr sie herum. Pascal glotzte wie ein geistig Behinderter. Mit dem Ellenbogen schlug ihm Lina gegen den Unterkiefer. Sie vernahm ein deutliches Knacken. Eine Sekunde später schoss Blut aus seiner Nase.

Entsetzte hielt er sich die Hände vors Gesicht, die sich rot färbten, und streckte sie Lina entgegen, als wolle er sagen: Sieh nur, was du getan hast!

Axel arbeitete sich auf die Beine, rutschte die Anhöhe hinab und verschwand in den Gebüschen. Einen Moment lang stand Pascal blutend da, dann folgte er ihm.

Von der Wiese ertönte das Geräusch spielender Kinder. Lina fuhr sich über das Gesicht, das sich plötzlich kochend heiß anfühlte. Es erschreckte sie, wie stark ihre Hände zitterten.

Sie kniete neben Ben nieder, der sich hingesetzt hatte und sich mit einer raschen Bewegung die Tränen von den Wangen wischte.

»Alles in Ordnung?«

Ben spuckte eine kleine Kugel aus Speichel und Blut aus. »Danke.« Er sah sie an. »Die beiden haben ... es war so, dass ...«

»Miese Scheißkerle«, sagte Lina. Die Hitze wanderte von ihrem Kopf in ihren Körper, und sie fragte sich, ob sie jetzt ohnmächtig werden würde.

Ben lächelte. Es war ein klitzekleines Lächeln und kurzlebig, aber es war da. Er stand auf und klopfte sich die Hosen sauber. »Danke«, sagte er noch einmal.

Lina fand, dass er wie ein Ertrinkender klang, der sich mit letzter Kraft auf ein Atoll gerettet hatte.

Von Anfang an schien er mehr als nur ein Geheimnis zu haben.

Lina schloss die Haustür. Der Geruch nach verkochtem Kohl schlug ihr entgegen.

Sie tanzte durch den Flur, warf ihren Rucksack in eine Ecke und drehte sich im Kreis.

Sie dachte an Ben, Ben, Ben. Sie dachte daran, wie schrecklich jung er aussah, als bestünde er aus Cellophan, ein Junge mit großen, dunklen Augen, immer schüchtern dreinblickend.

Aber hinter dieser Schüchternheit schlummerte etwas.

Himmel, sie würde ihn treffen, er hatte sie zu sich eingeladen! Der seltsame Junge mit dem ängstlichen Lächeln hatte sich mit ihr verabredet!

Linas Mutter, eine tropfenförmige Frau mit kurzen Haaren, stand in der Küche und machte den Abwasch. Ihr Vater befand sich wahrscheinlich in seinem Kellerzimmer, wo er darüber nachgrübelte, was aus seinen Träumen geworden war.

»Lina«, rief ihre Mutter. »Bist du das?«

Himmel, wer sollte es denn sonst sein?

Lina betrat die Küche. Ihre Mutter musterte sie und fragte: »Bist du schon daheim?«

Lina hatte das Bedürfnis zu sagen, nein, das sei nur ihr Geist. Sie versuchte, Bens merkwürdiges Lächeln zu kopieren. Sie wusste nicht, ob es ihr gelang, aber es fühlte sich gut an. Sie öffnete den Kühlschrank und suchte nach einem kleinen Snack.

»Dein Vater ist noch einkaufen, bist du zum Abendessen da? Übrigens, jetzt halt dich mal fest: Gerhard ist gestorben, ganz überraschend.«

Lina biss in ein Stück Camembert. »Wer ist gestorben?«

»Dein Onkel Gerhard. Ganz überraschend. Herzinfarkt. Schlimm, schlimm, schlimm, was so alles passieren kann. Aber er hat ja auch geraucht wie ein Schlot.«

»Ich kenne keinen Onkel Gerhard.«

»Aber natürlich kennst du ihn.« Ihre Mutter trocknete einen Teller ab, als wolle sie ihn auf Hochglanz polieren. »Du hast doch heute bei ihm übernachtet. Ging es ihm da noch gut?«

Lina war verwirrt. »Ich war bei Onkel Flossie, nicht bei Onkel Gerhard.« Was faselte ihre Mutter da eigentlich?

»Von dem rede ich doch!« Der Ton ihrer Mutter gefiel Lina überhaupt nicht. Ihre Stimme klang plötzlich scharf, als rege sie sich darüber auf, dass ihre Tochter so schwer von Begriff war. »Gerhard ist tot. Herzinfarkt. Was so alles passieren kann. Schlimm, schlimm, schlimm.«

Gerhard ist Onkel Flossie , dachte Lina. Ihr Kopf war in Watte gehüllt.

Das musste ein Irrtum sein.

»Aber«, brachte sie hervor. »Aber ...«

»Gerhard Flossenburger. Mensch, Lina! Mein Bruder. Wir standen uns nicht besonders nahe. Ich glaube fast, du kanntest ihn besser als ich. Schlimm, was so alles passieren kann. Schlimm, schlimm, schlimm.«

Die Erkenntnis traf sie wie ein Genickschlag. Lina drehte es den Magen um, plötzlich gab es keinen Sauerstoff mehr in der engen, nach Kohl riechenden Küche. Das Haus atmete tief ein, stahl ihr die Luft. Ihre Beine verwandelten sich in Pudding, alles drehte sich.

»Onkel Flossie?« Ihre Stimme klang wie von weit her.

»Ja, genau. Onkel Flossie, herrje, so hast du ihn ja immer genannt. Er ist ganz überraschend ... schwupps, einfach umgefallen und war nicht mehr.«

»Ganz einfach umgefallen? Und war nicht mehr?«

Lina fühlte sich wie in einem Traum gefangen. Was spielte ihre Mutter da für ein Spiel? War das eine Prüfung?

»Er war schon ein sonderbarer Kauz. Lina? Ist alles in Ordnung? Setz dich mal.«

Lina spürte kaum, dass ihre Mutter sie zu einem Stuhl führte. Sie machte den Mund auf, aber es kam nur ein Fiepen heraus.

»Geht's dir auch wirklich gut? Du hast wieder nicht richtig gegessen, stimmt's?«

»Onkel Flossie ... hat mich doch heute noch zur Schule gebracht. Er ist nicht tot.«

»Doch, ist er.« Emotionslos, glatt. »Tot. Schlimm.«

Lina blickte ihrer Mutter in die Augen, suchte nach einer heimtückischen List, einem gemeinen Scherz, den sie ihr spielte.

»Du lügst!«

Ihre Mutter blickte zur Wanduhr. »Ach du meine Güte, schon so spät. Ich muss mich um das Essen kümmern. Bist du zum Abendbrot da?«

Im Zeitlupentempo stand Lina auf. Sie schien Tonnen zu wiegen. »DU LÜGST!« Sie versuchte sich an Bens Lächeln, aber es funktionierte nicht.

Stattdessen brach sie in Tränen aus.

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Schwarzes Erbe (Autor: Jens Lossau)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt