Nacktsein (Teil 1/4)

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Im ersten Moment wusste Lina nicht, wo sie war. Die Luft roch anders als in ihrem Zimmer daheim. Frischer. Das lag an dem fremden Haus. In dem fremden Haus lebte jemand, der Gerüche hinterließ. Es roch nach Gewürzen und Pflanzen; nach Kaffee und verstaubten Büchern; nach den Spänen, die beim Bleistiftanspitzen entstehen.

Sie blickte von der schrägen Holzdecke durch das Dachlukenfenster zu der Trauerweide, die im Garten stand. Die Sonne, die durch die Blätter fiel, war rot und genauso frisch wie die Luft.

Es war kurz nach sieben, der Wecker würde erst in einer Viertelstunde klingeln. Lina mochte diese Zeit des Tages am liebsten, wenn noch alles voller Erwartung war.

Das Zimmer war vollgestopft mit afrikanischen Masken und Trommeln, Grünpflanzen und Büchern. Das Dach lief spitz zusammen, wie bei einer hölzernen Pyramide.

Eigentlich handelte es sich um Onkel Flossies Arbeitszimmer. Er hatte die große Couch unter der Dachluke für sie mit frischer Bettwäsche bezogen. Zwischen ihren Füßen lagen Gilmour und Waters, Flossies Lieblingskater.

Sie hörte Schritte auf der Treppe, und eine Sekunde später erschien Onkel Flossies Kopf neben dem Geländer. In den Händen hielt er ein Tablett mit einer Tasse Kaffee und einem Teller mit Honighörnchen. Als er sah, dass Lina wach war, lächelte er.

»Schönen guten Morgen, die Dame. Na, schon beim Morgentraining?«

Onkel Flossie war ein kleiner kahlköpfiger Mann, auf dessen Nase eine altmodische schwarze Hornbrille saß. Seine Augen wurden an den Rändern von unzähligen Lachfältchen eingefasst. Er trug eine Gärtnerhose und ein weißes T-Shirt. Das Jackett, das er darüber gezogen hatte, passte überhaupt nicht dazu.

Lina streckte sich. »Morgen, Onkel Flossie.« Sie gähnte herzhaft. »Frühstück schon fertig?«

»Wie von Ihnen gewünscht, Fräulein Kessler.«

Er stellte das Tablett auf einen Rattansessel, nahm auf dem Fußboden Platz und griff sich ein Hörnchen. »Du gestattest«, sagte er und tunkte es in Linas Kaffee.

»Onkel Flossie, igitt, nicht! Jetzt schwimmen da lauter Bröckchen drin rum. Das ist widerlich.«

»Widerlich sind nur die Schnecken in meinem Garten, die fressen mir die ganzen Salatköpfe weg. Hast du gut geschlafen?«

Lina nickte. Natürlich hatte sie gut geschlafen, sie schlief immer gut, wenn sie bei Onkel Flossie war.

Gerhard Flossenburger war der Bruder ihrer Mutter. Lina war nicht ganz klar, warum die Talente in ihrer Familie so ungerecht verteilt waren, aber Onkel Flossie passte nicht in ihren Clan. Er hörte zu, erzählte Geschichten.

Er hatte ein Leben.

Bis vor wenigen Jahren hatte Onkel Flossie einen Trödelladen in der Mainzer Innenstadt besessen. Als Lina klein war, hatte sie sich dort gerne aufgehalten und in den engen Gängen gespielt. Der Laden war bis unter die Decke vollgestopft mit Kuriositäten: antike Möbel, uralte Lampen, Teddybären, deren Besitzer längst das Zeitliche gesegnet hatten, unheimliche Spiegel mit bizarrem Zierrand, starrende Porzellanpuppen aus dem letzten Jahrhundert.

Onkel Flossies Haus in Alzey war ebenfalls angefüllt mit Antiquitäten. Vor zwei Jahren hatte er eine Afrikareise unternommen, von der er mit allerhand Gepäck zurückgekehrt war - Dutzende von Trommeln, Masken und Speeren, weswegen man ihn am Zoll hatte verhaften wollen.

Sein Haus lag etwas außerhalb von Alzey, direkt an der Selz, einem kleinen, schmutzigen Bach, dessen Rauschen im hölzernen Pyramidenzimmer wie ein Flüstern klang.

Schwarzes Erbe (Autor: Jens Lossau)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt