Am Anfang steht immer der Anfang vom Ende

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Zweites Kapitel

„Schon seit der Steinzeit bis heute, und es wird bis in alle Ewigkeit so sein, ist es das unabänderliche Schicksal des gestandenen Mannes. An einem schönen Morgen wacht man auf und stellt fest, dass die Ehefrau langweilig geworden, und was noch schlimmer ist, defätistisch das Gegenteil glaubt, obwohl man es ihr gesagt hat.  

Der Zustand wäre noch erträglich, wenn nicht noch Schlimmeres dazu kommen würde. Für den intelligenten Mann zur schweren Last wird die Gattin, wenn man entdeckt, dass das alte Fleisch zwar willig, aber der Verstand schwach ist." 

Paul van Cre 

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Als ich anfing an diesem Buch zu schreiben, war ich ein männliches, jedenfalls dachte ich es, einundvierzigjähriges und verheiratetes Lebewesen, das sich am Anfang vom gefühlten Ende sechzehn eintöniger Ehejahre befand. Hinter mir lag eine relativ sichere Zeitspanne, in der ich zwar hin und wieder an die Rente, aber noch weniger an das Leben im letzten Drittel der mir vermutlich noch verbleibenden Zeit gedacht hatte.  

Warum ich so gleichgültig in den Tag hinein gelebt habe? Das ist einfach zu erklären. Der tägliche Albtraum von Maloche und Verbrauch hatte alles was im Leben wirklich wertvoll ist überlagert. Aber was ist im Leben wirklich wertvoll und was ist im letzten Lebensdrittel entbehrlich?  

Haus und gut gefülltes Bankkonto ist gut. Das ist keine Frage, denn es gibt dir die Freiheit, das zu tun was du innerhalb deiner sozialen und hedonistischen Ansprüche tun musst und möchtest.  

Frau ist für deine Grundbedürfnisse gut. Frau ist gut, wenn du Kinder hast. Kinder sind gut, wenn du eine Frau hast. Frau und Kinder sind schlecht, wenn du an die grenzenlose Freiheit denkst. 

„Du musst dir keine Sorgen machen, alles wird gut", lautet die Theorie der Verdränger. Ich behaupte, dass die Sorgen dann beginnen, wenn die Erinnerungen verblassen. Vieles habe ich vergessen, aber daran kann ich mich noch gut erinnern. Eines schönen Tages und vollkommen unverhofft begann sich mein Verstand zu regen und zu strecken. Plötzlich sah ich es vor mir. Ich, der Rebell der vor langer Zeit die Welt verändern wollte, war zum lustlosen Schrebergärtner meines kleinen Lebens verkommen. Rein rechnerisch und unter optimistisch kalkulierten Voraussetzungen hatte ich etwa zwanzig Prozent abgelebter Vergangenheit eines, und zwar meines wertvollen Lebens mit einer mir fremden Frau verbracht, von der man nicht behaupten konnte, dass sie die Fähigkeit besessen hatte, über die Erfindung des Schießpulvers nachzudenken.  

Die Zeit war wie im Flug mit einem Düsenjet an mir vorbeigegangen und ich hatte sie brav, so wie es seit jeher den gesellschaftlichen Normen in einer zivilisierten Gesellschaft entspricht, ohne Murren abgeleistet. Mein Lebensglas war nicht mehr voll. Es war auch nicht halbvoll, die letzte Hälfte des Inhalts begann sich immer schneller zu leeren.  

Was mich noch zusätzlichen deprimiert hatte, war die unspektakuläre Aussicht auf weitere, klar strukturierte Jahre der letzten Hälfte meines Lebens, die wie graue Betonklötze, neben denen Panzersperren wie Spielzeug für Kleinkinder wirken mussten, unbeweglich und unveränderbar vor mir lagen. Zu dem ganzen Elend traf mich auch noch das tückische Zeit-Raum-Volumen-Phänomen.  

Du hast noch nie etwas davon gehört? Dann will ich es dir in einer einfachen Form erklären. Je älter du wirst, umso schneller vergeht die Zeit in einem immer kleiner werdenden Aktionsradius, in dem du gefangen bist, während sich alle Personen wie aufgedunsene Körper in einer Leichenhalle ausdehnen.  

Du musst mir zu meiner sensationellen Entdeckung nicht gratulieren. Mir wäre es lieber, ich hätte niemals darüber nachgedacht.  

Wie ich darauf gekommen bin? Ich habe Zeit-Raum-Volumen-Phänomen das erste Mal vor etwa fünfzehn Jahren am eigenen Leib erfahren. Mir war der spontane Gedanke gekommen, dass eine Bahnfahrt angenehmer und auch sicherer sein könnte, als der Stress auf den überfüllten Autobahnen. Weg mit dem Risiko des ungehemmten Verkehrs, rein in die geregelten Abfahrt- und Ankunftszeiten. Einmal ganz entspannt im luxuriösen Intercity-Sessel zurücklehnen und die Fahrt genießen.  

Da saß ich also, zufrieden und mit einer guten Laune. Als Autofahrer achtet man ja nicht so darauf. Anfangs, sozusagen als unerfahrener Bahnfrischling, konnte ich mich noch am Blick aus dem Zugfenster freuen. Die Aussicht war schön und die farbenfrohe Herbstlandschaft, es war am Ende des dritten Jahresquartals, zog immer schneller an mir vorbei.  

Kennst du den dämmrigen Zustand, wenn man grenzenlos vertraut und plötzlich schläfrig wird? Die Aufmerksamkeit lässt nach, denn man hat es sich behaglich gemacht. Mit hochgelegten Beinen im häuslichen Fernsehsessel ist diese Erfahrung besonders schön. Man ruht und kann nicht wegrennen, denn der schwache Wille (männlich) wird von der brutalen Bequemlichkeit (weiblich) manipuliert. 

Ich erinnere mich noch genau, es war ein entspanntes Gefühl der Sicherheit und des Vertrauens, damals in meinem komfortablen Bahnabteil. Von mir zuerst unbemerkt, fiel es mir immer schwerer, mich auf die vorbeihuschende Landschaft zu konzentrieren. Die Häuser, Wiesen, Bäume und auch die Kirchtürme sah ich nur noch als einen vorbeiziehenden Einheitsbrei. Die Zeit schien stehen zu bleiben und gleichzeitig immer schneller zu verrinnen. Trotz der schönen Herbstzeit wurde die Farbe der Landschaft mit der Dauer der Zugfahrt immer grauer. Die Augen fielen mir zu und ich hörte die Stimmen der Mitreisenden wie aus weiter Ferne. Dann begann sich etwas zu verändern. In meinem Wachtraum hörte ich zuerst eine leise, fast sanft flüsternde Stimme, die sich nach und nach zu einem hysterischen, sich überschlagenden Geschrei steigerte. Es waren die gellenden Worte: „Du sollst so lange mit diesem Zug fahren, bis dass der Tod euch scheidet" und eine riesige Hand mit einem ausgestreckten Zeigefinger deute auf mich. In meinem Traum sah ich einen Geisterzug vor mir, endlos auf fest verlegten Gleisen fahrend, jeden Tag und jede Nacht und nie wieder anhaltend, weil die toten Seelen der Mitreisenden den Zug nicht mehr stoppen konnten. Es war eine Fahrt bis zum vorbestimmten Ende, dem endgültigen Ende vor dem Nichts.  

Ich bekam grauenhafte Angst und die Panik schnürte mir den Hals zu. So war es nicht abgesprochen. Es war nicht die versprochene Sicherheit, es war eine raffiniert inszenierte Falle. Voller Entsetzen sprang ich auf und rüttelte an den Ausgangstüren, aber sie ließen sich nicht mehr öffnen, niemals mehr. Der Geisterzug fuhr stampfend und ratternd immer schneller und er hielt nicht mehr an. Für immer und ewig sollte ich dazu verdammt sein, in diesem Zug zu fahren. Immer die gleichen Erlebnisse mit den immer gleichen Mitreisenden, solange ich noch dahinleben würde.  

Dann sprach eine andere, eine gefährlich drohende Stimme von oben zu mir: „Kontrolle."  

Ich spürte eine feste Hand, wie eine hart zupackende Kralle auf meiner Schulter. Es war die pure Angst, die wie ein schweres Halseisen meine Lebensgeister abwürgte. Schweißgebadet und am ganzen Körper zitternd bin ich aufgewacht. Plötzlich sah ich klar. Mein Leben ist zu kurz und zu wertvoll. Ich musste etwas verändern, um zu überleben.  

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