„Es wird nicht leichter", stellte sie resigniert, fast schon frustriert fest.

„Nein. Das wird es nicht. Ich glaube, dass soll es auch gar nicht", erwiderte ich, bemüht eine passende Antwort zu finden, welche nicht vollkommen abgedroschen klang.

Meine Schwester nickte leicht und schloss kurz die Augen.

„Ein Teil von mir wünscht sich, dass es so wäre. Ich liebe sie und das macht es unglaublich schwer für mich sie loszulassen", gestand sie.

Ich hob eine Hand an ihre Wange und strich mit dem Daumen darüber.

„Ich vermisse sie auch."

Lilly öffnete die Augen und sah mich an.

„Ich weiß. Ich bin froh, dass du da bist. Das du mich nicht damit alleine lässt."

„Nie wieder", versprach ich mit fester Stimme und fuhr los.

Während die Landschaft an uns vorbei flog, schlichen sich langsam Erinnerungen in meine Gedanken. Erinnerungen daran, wie ich Lilly damals vorgefunden hatte, als ich nach Annas Tod und meinem Auszug, zum ersten Mal wieder zu Hause gewesen war. Erinnerungen die so schmerzhaft wie unglaublich waren. Erinnerungen welche mir vermutlich für immer bleiben würden, ganz gleich wie sehr ich wollte, dass sie nicht existierten. Erinnerungen an eine Wahrheit welche niemand kennen sollte.

Ich schloss die Tür mit einem Fußtritt hinter mir und rief:

„Hallo, ich bin zu Hause!"

Keine Antwort. Meine Eltern waren noch arbeiten, aber Lilly hätte eigentlich zu Hause sein müssen. Es waren Sommerferien und ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie bei der Hitze nach Draußen gegangen war. Das wäre viel zu gefährlich und unklug. Bei solchen Temperaturen riet selbst der Bürgermeister davon ab vor die Tür zu gehen, solange es nicht absolut notwendig war. Mit einem lauten Knall, ließ ich meine Tasche fallen und sah mich suchend im Haus um. Sie war weder in der Küche, noch im Wohnzimmer oder im Schlafzimmer unserer Eltern. In ihrem Zimmer konnte ich sie auch nicht finden. Besorgt lief ich zur Haustür zurück und griff nach meiner Tasche, da ich sie in mein Zimmer bringen wollte, ehe ich weitersuchte. Wenn ich sie nicht bald fand, würde ich anfangen die nächstgelegenen Straßen zu durchkämmen. Ein Mensch, egal wie klein oder jung verschwand doch nicht einfach so. Als ich in mein Zimmer kam, entdeckte ich meine kleine Schwester dann doch. Sie saß zusammengekauert in einer Ecke und wiegte sich langsam vor und zurück.

„Lilly?", fragte ich besorgt.

Ich stellte meine Tasche auf meinem Bett ab und ging zu ihr. Ihre Haare waren zerzaust und ganz fettig. Ihre Haut blass und sie hatte sich die Lippen blutig gebissen. Sie weinte und wimmerte leise. Von ihrem Anblick vollkommen verstört, kniete ich mich neben sie und legte eine Hand auf ihre Schulter. Sie zuckte zusammen, als hätte ich sie geschlagen und presste sich noch enger in die Ecke, beinah so als hätte sie Angst vor mir.

„Hey. Ich bin es nur", sagte ich leise.

Sie sah mich verschreckt mit ihren glasigen Augen an. Vorsichtig zog ich sie in meine Arme und hob sie hoch. Sie war zu leicht, zu zerbrechlich. Als ich genauer hinsah, erkante ich wie dünn sie wirklich geworden war. Ihre Wangenknochen stachen hervor, genau wie ihre Wirbelsäule welche durch ihr T-Shirt zu erkennen war, auch ihre Arme waren dünner geworden, ebenso wie der Rest von ihr. Mit schmerzendem Herzen, ging ich mit ihr zu meinem Bett und setzte mich darauf. Lilly ließ ich auf meinem Schoß sitzen. Ich wiegte sie leicht hin und her und redete beruhigend auf sie ein.

Während sie sich langsam beruhigte, keimte in mir heiße Wut auf. Wie konnte das passieren? Wie konnte sie in einem solchen Zustand sein? Hatte denn niemand auf sie aufgepasst, seit ich weg war? Hatte sich niemand um sie gekümmert? Wie konnten unsere Eltern zulassen, dass sie so aussah? Das es ihr so ging? Sie mussten sich doch um sie kümmern und nicht verkommen lassen!

Forbidden Touch (TNM-#0.5)Where stories live. Discover now