Kapitel 1

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In schwarzer Trainingshose, welche bisher nie zu jeglicher sportlichen Betätigung gedient hat und einem ausgeleierten gelben T-Shirt liege ich auf dem Sofa.

Das Wohnzimmer: Seit einigen Wochen der Mittelpunkt meines bedauerlichen Daseins.

Dicht vor mir habe ich den Fernseher platziert, es läuft irgendein Actionfilm. Zugegeben ein durchaus langweiliger Streifen. Das Einzige, was daran noch annähernd Unterhaltungswert haben könnte, sind die vergeblichen Versuche des Hauptdarstellers wenigstens ein paar Dialoge zustande zu bringen. Wie gesagt vergeblich, abgesehen von lustigen Frage-Antwort-Spielchen wie: „Bereit Männer?"„Bereit, Boss!" , ist ausschließlich Gemetzel und viel nackte Haut zu sehen.

Irgendwann schalte ich aus eigener Selbstwertschätzung um. Kinderprogramm, Leben am Limit, Spielshows, Seifenopern, Nachrichten, die zur Verfügung stehende Auswahl an anderer Unterhaltung ist recht überschaubar. Ich entscheide mich für die Nachrichten. Ein Reporter berichtet von irgendwelchen politischen Konflikten, richtig zuhören kann ich ihm nicht, der Mann hätte besser Vorleser von Gute-Nacht-Geschichten werden sollen, seine Stimme sowie Tonlage ist zum einschlafen. Ich zucke ein wenig zusammen, als zurück ins Studio geschaltet wird.

,,Nun zu einem Zugunglück, welches sich heute morgen in der Nähe von Hamburg ereignet hat", sagt die durchaus attraktive Sprecherin.

Meine Augen weiten sich, auf dem Bildschirm erscheint mein Wohnort. Ich erkenne ihn sofort an dem in die Jahre gekommenen Bahnhofsgebäude. Neben einem Krankenwagen sind panisch durch die Gegend laufende Menschen zu sehen.

,, Es ist einer der schwerwiegendsten Unfälle, die sich in den letzten Jahren in der Kleinstadt ereignet haben. Eine junge Frau befand sich auf den Gleisen, als der Zug kam, der Fahrer bremste sofort, jedoch kam die Bahn nicht rechtzeitig zum stehen. Der Frau konnte nicht mehr geholfen werden. Durch die scharfe Bremsung wurden einige Passagiere verletzt, zwei davon schwer", fährt die Sprecherin fort.

In meinem Kopf schwirrt nur noch das Wort ,,krass" herum.

Es passt so gar nicht in das Bild dieses idyllischen Örtchens, in dem der Perfektionismus die wichtigste Tugend zu sein scheint.

Mir tun die Angehörigen der Frau jetzt schon leid, von ihrer Privatsphäre können die sich schon mal für alle Zeit verabschieden. Die stehen nämlich, sobald herauskommt wer die Frau war, unter totaler Beobachtung. Ich ziehe mein Handy aus der Hosentasche und schalte es ein.

Auf dem Startbildschirm erscheint die Meldung, dass ich einige Nachrichten erhalten habe.

In unserer sogenannten ,,Klassengruppe", wie der Name schon andeutet eine Gruppe von mir und meinen Mitschülern, ist eine rege Diskussion bezüglich des Unfalls ausgebrochen.

Mehrmals lese ich den Namen ,,Emily" in den Nachrichten, leider haben alle möglichen Leute das Bedürfnis ihren Senf dazu geben zu müssen, weshalb, sobald ich versuche mir eine Nachricht durchzulesen der Bildschirm von meinem Handy automatisch nach oben scrollt.

Schließlich wird mir das Ganze zu blöd und ich lege das Handy zur Seite.

Trotzdem lässt mich die Frage nicht los, was Emily mit der Sache zu tun haben könnte.

War sie auch in dem Zug? Wenn ja, ist sie verletzt? Vielleicht sollte ich mich bei ihr melden, nur um Gewissheit zu haben, dass es ihr gut geht. Ich schüttele unmerklich den Kopf.

,, Schwachsinn", flüstere ich. Davon abgesehen, dass wir uns in der Schule manchmal über den Weg laufen, haben wir nichts mehr miteinander zu tun. Warum sollte ich sie dann auf einmal wieder kontaktieren? Bestimmt sind die anderen, neugierig wie sie sind, schon längst auf diese Idee gekommen, schon deshalb werde ich morgen so oder so auf den neuesten Stand gebracht werden.

Obwohl, ich könnte auch Jan anrufen, der hat sich in letzter Zeit ziemlich gut mit Emily verstanden. Alter Verräter.

Ich gehe zum Telefon und wähle seine Nummer. Lange Zeit tut sich nichts, ich will schon auflegen, als eine Stimme sagt:,, Jan Flies."

,,Hey Janny, Till hier'', melde ich mich übertrieben gut gelaunt.

Darauf folgt toten Stille.

Nicht sicher, ob Jan überhaupt noch dran ist, räuspere ich mich.

,,Warum rufst du an", fragt Jan, er klingt etwas mitgenommen.

,,Wie es sich anhört hast du schon gehört, was passiert ist", fange ich vorsichtig an.

Ich hätte erwartet, dass er etwas dazu sagen würde, doch er schweigt.

Also spreche ich weiter: ,,Genau  genommen dachte ich du wüsstest vielleicht, was mit Emily ist...in der Klassengruppe wurde ihr Name öfters erwähnt."

Erneutes Schweigen. Dann gibt Jan plötzlich Laute von sich, die ich erst nicht ganz zuordnen kann.

Lacht der mich gerade aus?

Nein.

Er lacht nicht.

Er weint.

,,Jan", sage ich .

,,Du weißt es nicht", stellt Jan fest.

,,Was wissen", der patzige Unterton in meiner Stimme tut mir auf der Stelle leid, er scheint mit den Nerven wirklich am Ende zu sein.

Er gibt etwas Unverständliches zur Antwort.

,,Was hast du gesagt", frage ich.

Altbekannte Stille.

,,Du bist an allem Schuld", zischt Jan in den Hörer.

Bevor ich antworten kann, legt er auf.

Noch vollkommen perplex, versuche ich wieder einen klaren Gedanken zu fassen.

,Du bist an allem Schuld', so ein Satz schmerzt, besonders bei einem solchen Unglück und als wenn das nicht schon genüge, auch noch der beste Freund einem sowas an den Kopf wirft.

Ratlos, was ich den Rest des Abends tun soll, starre ich bloß ins Leere.

Gefühlte Stunden vergehen, in denen ich stocksteif dastehe, bis mich schließlich das Klingeln des Telefons zurück in die Realität  holt.

,,Jan'' schießt es mir in den Kopf. Hoffnungsvoll gehe ich ran. Ein Tuten. Der Anrufer hat aufgelegt.


You've Got The LoveWhere stories live. Discover now