Prolog

9.7K 394 17
                                    

„Ich verstehe ja, dass du wieder los segeln willst. Du bist nie lange zu Hause. Aber muss das so schnell sein? Warum gerade jetzt?"
Eirik wirkte wie ein kleines bockiges Kind und nicht wie ein erfahrener Krieger, der er eigentlich war. Tjelvar seufzte leise. In gewisser Weise konnte er verstehen, dass Eirik ihn bei sich haben wollte. Immerhin war er von seinem Vater erst vor kurzem zu seinem Nachfolger ernannt worden und war sich daher noch sehr unsicher, auch wenn er das nie zeigte. Aber Tjelvar wollte einfach nicht zu Hause bleiben. Ihn zog es in die Ferne.
„Ich habe dir gesagt, dass ich abwarte, bis deine Kinder auf der Welt sind und mich dann verabschieden werde. Deine Kinder sind jetzt schon einige Monate auf der Welt und sie haben sich prächtig entwickelt! Was soll ich noch hier?"
Er kitzelte den kleinen Magnus am Kinn, doch der zeigte kein Lächeln, sondern sah seinen Onkel eher herablassend vom Schoß seines Vaters aus an.
'Wie sein Vater!', dachte Tjelvar und wandte sich an seine kleine Nichte Fiona. Diese lächelte ihn gleich an, ohne dass er etwas tun musste. Sie glich eher ihrer Mutter. Auch sie würde eine kleine Schönheit werden und jeder würde sie mögen. Auch wenn Tjelvar es nie zugeben würde, hatte sich die Kleine schon in sein Herz geschlichen.

Eirik seufzte leise.

„Ich weiß, dass sie stark sind und überleben werden. Aber du weißt auch, dass Vater es lieber sehen würde, wenn wir beide hier blieben und uns die Aufgaben teilen würden. Du kennst mich! Ich bin ein Hitzkopf und manche Entscheidungen fälle ich zu schnell. Ich brauche dich, um mich zu bremsen und um mir Vernunft einzuflößen."
Tjelvar verdrehte die Augen.
„Hör auf zu jammern, Eirik! Du bist der zukünftige Jarl und wenn Vater dich jetzt hören könnte, würde er mich einsetzen! Du hörst dich an wie ein altes Weib!"
Es war kein Geheimnis, dass Eirik sich nicht in der Rolle des zukünftigen Jarl wohl fühlte. Aber Tjelvar hatte auch gesehen, dass Eirik sich anstrengte. Er würde ohne ihn zurechtkommen.
„Du weißt so gut wie ich, dass ich jetzt los segeln muss, wenn ich den ganzen Winterstürmen entkommen will."
Eirik nickte ernst und hob seinen Sohn an die Schulter.
„Das weiß ich natürlich. Aber auch das verstehe ich nicht! Warum willst du so kurz vor dem Winter fort? Es schneit bald! Warte doch, bis es wieder taut!"
Das wäre natürlich das Vernünftigste. Doch Tjelvar war nun lange genug zu Hause gewesen. Er wollte fort. Er hatte lange genug gewartet.
„Hör zu, Eirik. Jetzt passiert sowieso nichts mehr Aufregendes. Die meisten Krieger ziehen sich zurück und ich würde hier wahnsinnig werden. Nur Jagd und ab und zu etwas schnitzen...das ist nichts für mich! Ich brauche Beschäftigung!"
Eirik lachte dröhnend, was ihm einen empörten Blick seines Sohnes einbrachte.
„Du solltest dir auch..."
Tjelvar hob eine Hand.
„Sag nun nur nicht, ich soll mir auch eine Familie zulegen. Du hattest Glück mit deiner Flora! Das heißt nicht, dass ich jetzt auch eine Frau suchen werde! Außerdem kennst du mich! Ich bin nur unterwegs. Welche Frau würde das aushalten?"

Nein. Nicht nur das war es, was Tjelvar beschäftigte.Welche anständige Wikingerfrau würde es akzeptieren, dass er kein Krieger sondern eher ein Gelehrter war? Er versteckte es sehr gut, aber wenn er für längere Zeit zu Hause bleiben würde, fänden es andere bestimmt bald heraus, dass er sich lieber mit Schriftrollen beschäftige, als mit dem Schwert. Und sein Wissensdurst trieb ihn immer wieder weg von seiner Heimat.

Eirik zuckte mit den Schultern.
„Ich habe mich auch geändert! Für meine Familie."
Tjelvar konnte nicht anders. Nun lachte er auch schallend.
„Ja, aber für wie lange? Und wie ich gesagt habe: du hast Glück mit deinem Weib! Flora würde nie etwas dagegen sagen, wenn auch du wieder davon segeln würdest!"
Sein Bruder wirkte nachdenklich. Dann raffte er die Schultern.
„Nun gut! Wenn es denn sein muss, dann verschwinde. Aber bleibe nicht zu lange fort! Du wirst hier gebraucht!"
Tjelvar nickte ernst.
Er glaubte zwar nichtdaran, dass er gebraucht wurde, aber wenn es seinen Bruder beruhigte, dann würde er bald wieder kommen. Er hatte sowieso nicht vor, zu weit weg zu segeln.
Er wollte schon vor der ganzen Geschichte mit Floras Entführung nach Schottland. Er würde nicht lange unterwegs sein und im Frühjahr wieder kommen, um seinen Bruder zu beruhigen. Aber danach würde er bald wieder für eine längere Reise davon segeln.
Nein, sein Bruder würde ihn nicht brauchen. Er war ein großer, starker Mann, auch wenn er es nicht wahrhaben wollte. Tjelvar war nur der Zweitgeborene und hatte daher seine Narrenfreiheit.
Langsam ließ er seinen Blick durch die Halle schweifen. Man konnte noch das frische Holz riechen. Das Langhaus war erst vor Kurzem wieder aufgebaut worden.Auch da hatte er geholfen, aber sie war nun fertiggestellt. Die Frauen gingen ihrer täglichen Arbeit nach und die Männer planten schon die nächste Jagd oder diskutierten darüber, welche Arbeiten noch anlagen.
Seine Mutter untersuchte einen Verletzten und sein Vater war in der Schmiede, um ein Werkzeug her zu stellen.
Nein! Man würde ihn nicht vermissen.
Tjelvar war kein großer Krieger, auch wenn er schon sehr viele Schlachten gewonnen hatte. Er fühlte sich nicht wie ein Krieger sondern war ein Suchender. Ein Suchender nach Wissen. Das hatte er von seiner Mutter geerbt.
Schon als kleines Kind war er ihr immer gefolgt, wenn sie Kräuter suchte oder Kranke besuchte. Er hatte ihr unzählige Fragen gestellt, die sie ihm alle beantwortet hatte, ohne einmal genervt zu wirken. Mittlerweile war auch er ein sehr guter Heiler. Aber was brachte ihm dass, wenn seine Mutter eine sehr gute Heilerin war und er nichts zu tun hatte?
Deswegen zog es ihn auch immer wieder in die Ferne. Er wollte noch mehr lernen. Wollte andere Möglichkeiten kennen lernen. Er wollte noch besser werden und von den Besten lernen.
Er küsste seine Nichte vorsichtig auf das flaumige Haar. Sie war mittlerweile in seinen Armen eingeschlafen. Auch für die Kleinen wollte er noch mehr lernen. Und das konnte er hier nicht.
Eirik stand auf.
„Runar wird dich wieder begleiten, oder?"
Tjelvar nickte.
Runar war wie er, allerdings war er ein Zimmermann und Schiffsbauer. Trotz seinen jungen Jahren war er schon sehr gut in seinem Handwerk. Trotzdem scheute er sich nicht, immer wieder etwas Neues dazu zu lernen. Irgendwie hatte Tjelvar auch im Gefühl, dass er ihn noch brauchen würde. Er wusste selbst nicht, warum ihm das gerade in den Sinn kam.
Aber auch Eirik schien beruhigter, weil Runar dabei war.
„Gut! Dann werde ich dich nicht aufhalten. Und ich werde mit Vater reden. Auch er wollte dich überzeugen, dass du noch hier bleibst."
Tjelvar neigte leicht seinen Kopf.
„Ich danke dir dafür, mein Jarl!"



Eine Woche später stachen sie in See.
Tjelvar konnte entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, seinen Blick lange nicht von der Steilküste wenden. Das komplette Dorf hatte ihn verabschiedet und sie standen immer noch am Strand.
Runar kam an seine Seite.
„Ich habe ein dummes Gefühl, Tjelvar! Ich habe keine Ahnung, warum es so ist, aber bisher hatte ich noch nie so ein Gefühl, dass ich diese Küste lange nicht mehr sehen werde!"
Dieser nickte.
Das hatte er auch.
Er spürte, dass es dieses Mal ein längerer Abschied gewesen war, obwohl er das eigentlich gar nicht vorhatte. Zweifelnd schaute er auf den blauen Himmel.
Am liebsten wäre er zurückgekehrt.
Aber das konnte er auch nicht tun.

Er wäre zwar sicher, aber gefangen!

Das wollte er nicht!

Er wollte seine Freiheit!

Entschlossen reckte er das Kinn!


Nein, was auch immer sein Schicksal für ihn bereithielt, er würde es annehmen.

TjelvarWo Geschichten leben. Entdecke jetzt