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Sie steigt in die Bahn und muss widerwillig bemerken, dass in seiner Nähe kein einziger Sitz frei ist. Also räuspert sie sich und fragt den älteren Herrn, der auf ihrem Platz sitzt, ob sie sich dahin setzen könne. Ihr gehe es schrecklich und sie habe fürchterliche Bauchschmerzen, erklärt sie bedauernd. Der Mann steht daraufhin auf und sie bedankt sich, bevor sie sich auf ihren Platz fallen lässt.

Interessiert beobachtet er das Geschehen und fragt sich anschließend, ob es ihr wirklich schlecht geht, denn er findet keine Anzeichen dafür. Ihr Gesicht strahlt in gebräuntem Ton, ihr Mund hat sich zu einem Lächeln geformt. Das Gefühl von Erleichterung und Fröhlichkeit macht sich in ihm breit, denn schließlich ist sie wieder erschienen.

Nachdem sie letzte Woche einfach so ohne Grund zwei Stationen hin, und anschließend wieder zurück gefahren ist, hat sie sich für den heutigen Tag etwas Sinnvolles vorgenommen. Denn sie hat extra einen Zahnarzttermin auf diesen Montag gelegt.

Die Bahn wird langsamer und hält an der nächsten Station. Eine Station bleibt mir noch, denkt er. Diesmal sind es insgesamt drei, weiß sie.

Er erinnert sich an die Worte seiner Oma, als er ihr gestern erklärte, sie würde nun zum dritten Mal in drei Wochen Besuch von ihrem Enkel bekommen. Es würde sie freuen, dass er sie nicht alleine ließ, aber für sie würde die Begründung, dass er nichts besseres zutun hätte, nicht ausreichen. Sie wüsste, dass dahinter noch mehr steckt. Schmunzelnd muss er zugeben, dass sie Recht hat.

Während er in schöne Gedanken versinkt, prägt sie das schlechte Gewissen. Sie hat heute zum zweiten Mal in kürzester Zeit gelogen. Bei dem einen Mal hatte sie behauptet, es würde ihr schlecht gehen, obwohl sie topfit war. Beim anderen Mal ging es um ihren Termin. Sie hat erzählt, dass ihr Terminkalender am Platzen sei und es nur am Montag um siebzehn Uhr dreißig ginge. Nur, um nun in dieser Bahn zu sitzen. Und das bloß wegen einem Fremden, wegen einem Typen, den sie nicht im geringsten kennt. Das ist doch verrückt, oder? Ja, das ist es. Sie ist es schon immer gewesen.

Die Bahn wird langsamer und hält an der nächsten Station. Fragend blickt er zu ihr, müsste sie jetzt nicht aussteigen? Grinsend schaut sie zu ihm und bleibt auf ihrem Platz sitzen, nicht einmal daran denkend, aufzustehen.

Er ist sichtlich darüber erfreut, etwas mehr Zeit mit ihr verbringen zu können, beziehungsweise ihr gegenüber zu sitzen und sie unauffällig anzustarren. Das ist ziemlich schräg, findet er. Wieso hat er nicht den Mut, sie einfach anzusprechen? So schwer kann das doch nicht sein. Vielleicht liegt es an seinem Gewissen, denn er weiß, dass ihn nichts drängt, denn nächste Woche wird sie wieder da sein. Oder?

Auch sie wartet darauf, in ein Gespräch verwickelt zu werden. Was für ein Charakter sich wohl hinter seinem hellen Haar und seinen Grübchen versteckt? Ob er sie zum Lachen bringen könnte? Ob sie Gemeinsamkeiten hätten?

Wann und ob sie auf diese Fragen eine Antwort erhalten wird, weiß sie nicht. Denn die Bahn hält wieder und mit trauriger Miene verlässt sie den Waggon, natürlich nicht, ohne sich noch einmal kurz umzudrehen. Ihre Blicke treffen sich und für eine Millisekunde verstummen alle Gespräche um sie herum, verblasst die Welt und bleibt die Zeit stehen.

Doch dann steigt sie aus, er bleibt wie gewohnt sitzen, und die Zeit setzt fort.

Die Türen schließen, die Bahn fährt los.

Hoffentlich erlebe ich nächste Woche diesen wunderschönen Moment nochmal, wünscht sie sich.

Hoffentlich kann ich nächste Woche über meinen Schatten springen, wünscht er sich.

Vielleicht spricht er mich dann an, hofft sie.

Vielleicht reden wir dann miteinander, hofft er.

Vielleicht nächstes MalWhere stories live. Discover now