Frau Napphägen wünscht sich wieder ein Puppenhaus

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»Endlich, Agathe, dich haben wir sehnlichst erwartet, meine Liebe.«

Ebba Napphägen eilte auf die Nachbarin zu, die ihren Salon betrat, und führte sie zum Tisch, an dem schon Rosemarie von Fuhlsbüttel und Cornelia Wohlers saßen. Ihr Überschwang entsprang nur teilweise echter Freude darüber, Agathe Brook zu sehen, sie hoffte vor allem, dass nun das Thema gewechselt würde. Gerade hatten sie von dem neuen Teeservice gesprochen, das Rosemarie von einer Cousine geschenkt bekommen hatte, und von dem angeblich schon einmal der Kaiser persönlich gespeist habe. Frau Napphägen hatte Begeisterung und Interesse geheuchelt, aber das Thema war ihr unangenehm. Ihre Tassen und Teller stammten allesamt noch aus ihrer Ausstattung zur Hochzeit von vor gut dreißig Jahren, und das wussten die Freundinnen genau. Warum mussten sie derart gefühllos protzen? Früher hatten sie sich einfach getroffen und einen angenehmen Nachmittag verbracht, nun wollte jede die Anderen als Gastgeberin übertrumpfen. Begonnen hatte Cornelia, deren Familie den Zoo besaß. Frau Napphägen sah die Szene immer noch vor sich. An einem sonnigen Frühlingstag, man hatte noch nicht lange an der Tafel im Wintergarten der Wohlers gesessen, und das Baisergebäck war gerade erst aufgetragen worden, faltete Cornelia feierlich die Hände, setzte eine Miene auf, als sei sie eine Botschafterin des englischen Königshofs, geschickt, um die Geburt eines Thronfolgers anzukündigen und sagte: »Ich habe eine Überraschung für euch. Karl hat eine neue Attraktion, die erst nächste Woche für die Allgemeinheit zu sehen sein wird, aber wir dürfen vorab einen Blick darauf werfen. Was meint ihr?«

Rosemarie sprang auf, offensichtlich voll der Vorfreude. Sie war ein schlichtes Gemüt und liebte Tiere über alles. Wer konnte ihr den Spaß verderben? Ihr zuliebe sagte Frau Napphägen, sie wolle gern einen Blick auf die Neuankömmlinge werfen, auch wenn sie sich absolut nichts aus Leoparden und Elefanten machte. Sicher, gesehen haben musste man diese Kreaturen einmal, aber in Büchern waren sie doch meist um Einiges schöner. Die echten Exemplare des Zoos stellten sich fast immer als traurige Gestalten heraus, mit räudigem Fell und abgebrochenen Zähnen, die lustlos in ihrem Futter wühlten oder dösend in der fernsten Ecke des Geheges lagen. Und dann die Haufen an Kot, die sie produzierten! Frau Napphägen war die Gattin eines Guanoimporteurs, ihr Ehemann Johann schiffte die Ausscheidungen von Vögeln über den Atlantik und verkaufte sie als Dünger. Um Fäkalien zu besichtigen, musste sie nur sein Lager am Hafen besuchen, aber daran hatte sie keinen Bedarf. Wenn sich mit dem Zeug Geld machen ließ, war das schön und gut, aber sie mochte es weder sehen noch riechen. Sie nahm zwei Baisers für den Weg mit und folgte Cornelia und Rosemarie ohne Erwartungen zur Kutsche, die sie zum Zoo fuhr. Dort holte Karl Wohlers sie am Eingang ab und führte sie in einen Schuppen hinter dem Verwaltungsgebäude.

Noch immer wünschte Frau Napphägen sich an die Teetafel zurück. Aber dann! Zwischen Futtereimern und Heuballen standen zwei schwarze Männer und banden Bastmatten. Um die Hüften hatten sie Lappen geschlungen, ansonsten waren sie nackt. Auf ihren muskulösen Oberkörpern glänzte Schweiß. Sie erinnerten Frau Napphägen an dunkle Porzellanfiguren. Ihre Proportionen waren ebenmäßig, ihre Haut makellos, und sie wirkten zu schön, um echt zu sein. Einer hob den Kopf und sah Frau Napphägen missmutig an. Sie hätte nur die Hand auszustrecken brauchen, um sein krauses Haar zu berühren.

»Wo sind denn nun die Tiere?«, fragte Rosemarie ungerührt.

Drei Augenpaare sahen sie verständnislos an.

»Doch keine Tiere. Die Afrikaner sind unsere neue Attraktion«, sagte Herr Wohlers schließlich.

»Menschen?«, Rosemarie wirkte enttäuscht.

Herr Wohlers zog ein Plakat hervor, auf dem eine schwarze Kriegerin posierte, eine Hand in die Hüfte gestemmt, die andere auf einen Säbel gestützt.

»Völkerschauen, andere Zoos haben sie schon seit Jahren«, sagte er. »Wurde höchste Zeit, dass wir auch eine machen. Haben Sie denn noch nichts vom Amazonen-Corps in Frankfurt gehört? Oder von den wilden Weibern in Köln?«

»Doch, aber Wildkatzen sind mir lieber.«

Rosemarie verschränkte die Arme und schmollte wie ein Mädchen. Frau Napphägen dachte, dass ihr Herz und ihr Schoß aus Holz sein mussten.

»Sie sperren diese Männer in einen Käfig?«, fragte sie Herrn Wohlers.

»Nicht doch, ich werde ihnen ein freies Gehege zurechtmachen, dort können sie ihre traditionellen Hütten aufbauen und ihr Stammesleben zelebrieren. Wir möchten unseren Besuchern einen Einblick in eine fremde Kultur geben.«

Herr Wohlers legte die Finger aneinander wie ein Schulmeister, der vor einer Klasse dozierte. Ein Lächeln zerriss seine ernste Miene.

»Und mit dem nächsten Schiff kommen die Frauen. Die müssen Sie sich auch noch anschauen.«

»Das werde ich«, sagte Frau Napphägen.

Und das hatte sie. Die Völkerschau dauerte drei Wochen, und während dieser Zeit ging sie jeden Tag in den Zoo. Sie war nicht die Einzige, die von der neuen Attraktion nicht genug bekommen konnte. Presse und Zuschauer drängelten sich vor dem Gehege, und bald waren Frau Napphägen einige der Gesichter vertraut. Was faszinierte die Hamburger an den Afrikanern? Ohne Zweifel waren die schwarzen Männer und Frauen beeindruckende Gestalten mit dem Körperbau von Kriegern und Fruchtbarkeitsgöttinnen. Aber schöne, halb nackte Menschen gab es auch im Zirkus, und sonderbare Wesen, wie die schon verstorbene und ausgestopfte Affenfrau Julia Pastrana konnte man alle naselang auf durchreisenden Schauen bestaunen.

Was Frau Napphägen betraf, war da noch etwas anderes, das sie anzog. Die Afrikaner zeigten ihr, dass eine vollkommen andere Existenz möglich war. Die meiste Zeit saßen sie tatenlos herum und froren. Manchmal kochten sie etwas über einem Feuer, rieben sich gegenseitig die Haut mit Öl ein, oder starrten über den Zaun zurück. Wollte Frau Napphägen mit ihnen tauschen? Keinesfalls. Aber das Wissen darüber, dass man in einem anderen Teil der Welt nicht auf gestärkten Tischdecken speiste, und nur sprach, wenn man etwas zu sagen hatte, und nicht aus Gründen der Höflichkeit, machte sie zuerst wehmütig, und dann, nach dem Ende der Völkerschau, ihren eigenen häuslichen Tätigkeiten überdrüssig.

Jung verheiratet war sie stolz darauf gewesen, ihr Heim nach der neuesten Mode eingerichtet zu haben, jetzt aber wurden ihr die Grenzen ihrer Gestaltungsmöglichkeiten bewusst. Sie konnte Lüster auswählen, Deckchen platzieren und Blumenbänke bestücken, doch die Mauern der Villa blieben ihre Grenze. Cornelia hatte die Tiere im Zoo, Agathe ihre Pflanzen, die verträumte Rosemarie brauchte für Ausflüge bloß ihren Kopf, und Johann verließ allmorgendlich das Haus und spielte um Macht und Geld. Zwar klagte er seit Längerem über einen Rückgang der Guanonachfrage, aber sie vermutete darin nur geschäftsmäßiges Lamentieren. Einmal hatte er erwähnt, in den Immobilienhandel einsteigen zu wollen, und sie hatte ihn darin bestärkt. Wenn man neue Häuser baute oder bestehende umgestaltete, veränderte man das Bild der Stadt und beeinflusste, wie die Menschen lebten.

Als kleines Mädchen hatte sie ihr Puppenhaus geliebt. Wie gern hätte sie ein solches nun in größerer Dimension! Sie träumte von ganzen Straßenzügen, in denen sie Männer und Frauen in Wohnungen platzieren konnte, die sie zuvor geschmackvoll dekoriert hatte. Wenn sie geschäftliches Geschick zeigte, würde Johann sie vielleicht zu Verhandlungen mitnehmen oder sogar selbst welche führen lassen. Frau Napphägens Blick glitt zum Nachbargrundstück. Agathes schlichtes Backsteinhaus stand in einem Garten, der verwilderte, weil seine Besitzerin sich nur noch um die exotischen Pflanzen im Gewächshaus kümmerte. Kurz nach der Fertigstellung war Frau Napphägen einmal in diesem Glaskasten gewesen. Ganz hübsch, befand sie, aber so etwas konnte man doch auch in die Marschlande stellen. Man musste damit nicht Platz in dem Wohnviertel der Stadt blockieren, das sich am vielversprechendsten entwickelte.

»Agathe«, sagte sie unvermittelt. »Was müsste man dir eigentlich bieten, damit du über einen Verkauf nachdächtest?«

Die Orangerie - LESEPROBEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt