Per spielt Indio

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Im Tierpark, im Süden der Stadt, brach die letzte Stunde der Öffnungszeit an. Die Elefanten und Kamele kauten an ihrem Abendbrot, und die Schimpansen hatten sich auf ihren Felsen zurückgezogen und zeigten kein Interesse mehr an den Obststücken der Besucher.

Im ehemaligen Schafsgehege stand ein junger Mann neben einer kalten Feuerstelle und atmete schwer. Er trug ein Indiokostüm am Körper, eine Holzmaske vor dem Gesicht und auf dem Kopf eine Kappe aus Fell, die Nacken und Hals bedeckte. Den ganzen Nachmittag lang hatte er getanzt und schwitzte fürchterlich, aber solange noch Besucher vorbeikommen konnten, durfte er kein Teil ausziehen, wollte er nicht auffliegen. Unter seiner Verkleidung war Per kein Indio, sondern ein blonder, blauäugiger Eingeborener Hamburgs, und mittlerweile hielt er das Theaterspielen zwischen Primaten, Wiederkäuern und Dickhäutern nicht mehr für die leichteste Art, Geld zu verdienen.

Seine letzten zwei Reichsmark hatte er vier Tagen zuvor für eine Zugfahrkarte von Kiel zurück in die Heimat ausgegeben, und im Wagen der vierten Klasse, in dem die Reisenden so dicht gedrängt standen, dass keiner von ihnen umfallen konnte, war er mit einem Mann ins Gespräch gekommen, dessen Bruder im Hamburger Zoo arbeitete. Der Mann zeigte ihm einen Zeitungsausschnitt mit einem Bild von finster dreinblickenden Eskimos und wollte wissen, ob Per die schon gesehen habe. Nein? Völkerschauen seien doch der letzte Schrei in den Zoos, die Leute verlangten nach exotischen Menschen, mit wilden Tieren allein könne man sie nicht mehr locken. Wo die Zoodirektoren die Menschen denn herbekämen, fragte Per, und der Mann sagte, ach, er glaube, die würden wie Papageien irgendwo gefangen und eingeschifft, es könne aber auch gut sein, dass man einige hier anheuere. Im Hafen sähe man ja Männer aller Herren Länder, und sein Bruder habe berichtet, die Pygmäenbrüder, die kürzlich ausgestellt worden waren, hätten passabel Platt gesprochen und die Abende mit Skatspielen verbracht.

»Zu spaßen ist mit denen aber trotzdem nicht«, sagte der Mann. »Die sind als Wilde geboren, und mein Bruder achtet immer höllisch darauf, sie gut zu versorgen. Die Eskimos haben rohen Fisch gegessen, aber die Afrikaner, die nächsten Monat kommen, sind angeblich Menschenfresser. Wenn die zwei Wochen lang nur Brot bekommen, werden die unleidlich, könnt ich mir vorstellen. Mein Bruder sagt, wenn er tauschen könnte, würde er lieber eine Herde bösartiger Strauße versorgen. Neulich war ein Indio da, der sollte die Lücke überbrücken, bis die Afrikaner wiederkommen. Zuerst verhielt er sich friedlich, aber dann wollte er mehr Lohn, hat sogar gestreikt und keine Kriegstänze mehr aufgeführt. Ein Indio streikt, was sagt man dazu? Na, mein Bruder hat ihn rausgeworfen und sein Kostüm behalten.«

»Moment mal«, sagte Per. »Heißt das, die Wilden werden bezahlt?«

»Ne Mark am Tag, dazu freie Kost und Logis.«

»Geben Sie mir den Namen Ihres Bruders«, sagte Per. »Ich weiß einen Ersatz für seinen Indio.«

Und so hatte Per sich beworben und war tatsächlich eine Attraktion geworden. Der Tierpark stellte ihn allerdings zu schlechteren Bedingungen ein. Da Per, wie es der Direktor formulierte, »ein unechter Wilder« sei, müsse er den Tageslohn mit Trinkgeldern verdienen. Das funktionierte mehr schlecht als recht. Zu den zwei Groschen, die Per bei der Ankunft in Hamburg in seiner Tasche getragen hatte, waren erst neun hinzugekommen.

Anscheinend waren die Besucher nicht bereit, zusätzlich zum Eintritt Geld auszugeben, schon gar nicht für eine einzelne Gestalt. Immer wieder schnappte Per Gespräche über die Afrikaner auf, deren zweite Ausstellung im Spätsommer anscheinend sehnlichst erwartet wurde. Die Schwarzen hatten die Latte unerreichbar hoch gelegt.

»Die Hottentotten waren um Einiges lustiger«, sagte eine Dame und quetschte den Arm ihres Begleiters in begeisterter Erinnerung. »Oh diese Mannbilder.«

»Und die Frauen erst«, sagte der Begleiter.

»Ach Ernest, warum musst du immer auf Busen starren?«

»Weil sie schön sind. Das musst du selbst zugeben. Was ist das eigentlich für ein Hampelmann?«

Er beäugte Per misstrauisch.

»Lies doch das Schild«, sagte die Dame. »Das ist ein Indio.«

»Indio? Und warum trägt er eine Leinenhose?«

»Vielleicht ist er unterwegs ins Meer gefallen und hat einen Teil seiner Kleidung verloren.«

»Oder er hat sie gestohlen. Komm, schnell weiter. Lass uns noch die Affen ansehen.«

Per ließ die Arme sinken und stellte das Stampfen ein. Vielleicht fehlten wirklich die Frauen. Fort ging das Paar und mit ihm Pers letzte Hoffnung auf einen Lohn für den Tag. Sollte er noch einmal den Abendbrei aus Gemüsestückchen und Getreide essen, der vom Futter der Nagetiere abgezwackt wurde? Nein. In einer Hafenstadt wie Hamburg gab es auch für arme Teufel wie ihn, die in ihre Heimat zurückgekehrt waren und sich vor der Familie versteckten, einen Ort, an dem sie willkommen waren, an dem jeder willkommen war, weil es auf einen mehr oder weniger nicht ankam.

Per öffnete den obersten Knopf der Hose und atmete tief durch. Das Kleidungsstück war tatsächlich gestohlen und viel zu eng. Er riss Teile der Beinnähte auf, um es bequemer zu haben. Dort, wohin er nun gehen würde, legte man keinen Wert auf ein korrektes Erscheinungsbild.

»Auf zu Freiheit, Dreck und losen Sitten«, sagte Per zu sich selbst und überwand den Holzzaun mit einem Sprung. »Auf ins Gängeviertel!«


Die Orangerie - LESEPROBEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt