Alma entdeckt den Tempel der Botanik

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Hamburg, Juni 1905

Als Alma ihr zerschlissenes Tuch am Rande des Hopfenmarkts ausbreitete, hatten alle anderen Händler ihre Stände schon aufgebaut. Verschlafen hatte Alma nicht, im Gegenteil, sie war schon seit Stunden wach. Doch seit sie einmal als Erste gekommen war und der weite Platz mit seinem Übermaß an ungenutztem Raum ihr Herz zum Rasen gebracht hatte, erschien sie immer erst, wenn es von Menschen schon wimmelte.

Alma kauerte sich auf die Steine und legte ihre Ware auf dem Tuch aus. Sie bot allerlei winzige Bildchen an: Stadtpanoramen auf der Rückseite von Straßenbahnbilletts, Porträts von Berühmtheiten auf Zeitungsrändern, frivole Szenen auf daumennagelgroßen Papierschnipseln (»Scheuen Sie sich nicht meine Herren, die lassen sich überall heimlich betrachten!«).

Miniaturzeichnungen waren Almas Spezialität, und sowohl ihre Angst vor leeren Flächen, als auch ihr Talent, große Dinge klein zu machen, kamen nicht von ungefähr. Alma stammte aus dem Gängeviertel von Hamburgs Altstadt, Europas größtem Elendsquartier, und dort lernte man, mit wenig Platz auszukommen.

Eine Gruppe Halbwüchsiger näherte sich. Mit schnellen Strichen warf Alma den Michel auf einen Fetzen Papier und verlieh dem Kirchturm nackte Beine und einen Kussmund. Die Jungen stießen sich an und johlten, aber Münzen zogen sie nicht aus der Tasche. Alma legte den Stift wieder weg und griff nach dem Beutel, in dem sie ihre Habseligkeiten aufbewahrte. Der Zeichenblock, den sie sich in besseren Zeiten geleistet hatte, enthielt noch ein letztes Blatt. Sie klappte ihn auf. Das feste, weiße Papier warf die Sonnenstrahlen zurück. Es war für Auftragsarbeiten reserviert. An den meisten Tagen verkaufte Alma nur die Schnipsel mit den Miniaturen, aber bei schönem Wetter saßen die Börsen der Leute lockerer, und manch einer ließ sich porträtieren. Darüber hinaus arbeitete sie manchmal für die Presse.

»Herr Kamp, hallo!«, sie winkte einem Mann, dessen feiner Anzug nicht zu seinen abgestoßenen Schuhen passte. »Suchen Sie nach Geschichten für die Sonntagsausgabe? Ich hab etwas Schockierendes gehört und könnte ein Bild ...«

Sie brach ab, weil der Mann einen Finger an die Lippen legte.

»Still. Wir Reporter ziehen es vor, unsere Quellen geheim zu halten.«

Immerhin war er näher gekommen, um das zu sagen.

»Hat dem Chefredakteur meine Zeichnung gefallen?«, fragte Alma.

»Aber ja, er sagte, Ihre Vorstellungskraft sei wahrhaft überbordend. Etwas Schaurigeres habe er lange nicht gesehen.«

»Dann wollen Sie mehr davon?«

»Sachte, Fräulein. Gerüchte und Skandale muss man wohl dosieren, sonst werden die Leute ihrer überdrüssig. Doch versprochen, ich werde wieder auf Sie zukommen, und nächstes Mal möchte ich Blut sehen.«

Er zwinkerte ihr zu und ging weiter.

»Blut kriegen Sie eimerweise«, rief Alma ihm nach. »Die Damen werden umkippen, wenn Sie die Zeitung aufschlagen.«

In ihre Worte mischte sich Magenknurren. Es war schon Mittag vorbei, und ihre letzte Mahlzeit war ein altes Brötchen am Abend zuvor gewesen. Sie drehte den Block um und begann, auf dem Pappdeckel der Rückseite aus dem Gedächtnis eine Bananenstaude zu zeichnen. Letzten Monat hatte sie eine Ausgabe eines botanischen Magazins am Straßenrand gefunden. Zwischen den Seiten mit Text gab es aufwändige farbige Darstellungen der Pflanzen. Hätte sie diese in billige Holzrahmen gesteckt und verkauft, wäre endlich wieder genug Geld da gewesen, um sich richtig satt zu essen. Doch sie brachte es nicht übers Herz, die Abbildungen herauszuschneiden. Noch nie hatte sie etwas derart Schönes besessen. Alle Details der Pflanzen waren sorgfältig ausgearbeitet. Man glaubte, durch ein Mikroskop zu sehen. Jedes Blatt, jede Faser und jedes Samenkorn zeigte sich in wunderbaren Details.

Die Orangerie - LESEPROBEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt