Alma entdeckt den Tempel der Botanik

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In Almas Viertel säumten schmale, mittelalterliche Häuser die Gassen, und weil im Laufe der Jahrhunderte immer mehr Menschen Wohnraum in der Nähe des Hafens gesucht hatten, waren die meisten Gebäude nach und nach aufgestockt und die Hinterhöfe zugebaut worden. Als Säugling hatte Alma noch am meisten Platz gehabt. Damals bewohnte ihre Familie ganz allein eine Bude im Hinterhof der Spitalerstraße. Die Bude bestand aus einer Stube im Erdgeschoss und einer Kammer darüber. Almas Eltern besaßen ein Bett für sich, ihre drei größeren Mädchen teilten sich eines, und Alma schlief in einer Kommodenschublade. Als sie für die Schublade zu groß wurde, wechselte sie in eine mit Lumpen gepolsterte Kiste.

1892 wütete die Cholera in der Stadt. Vater und Mutter starben, und die Kinder wurden an Verwandte aufgeteilt. Die damals siebenjährige Alma zog zu ihrer Tante. Dort hatte sie immerhin noch ein halbes Bett für die Morgenstunden zur Verfügung. Wenn der Mann der Tante früh zur Arbeit ging, durfte sie ihr Lager auf dem Boden verlassen und seinen Platz auf der strohgefüllten Matratze einnehmen.

Aber dann bekam die Tante ein Kind, und Alma musste fort. In den folgenden Jahren lebte sie bei einem verwitweten Onkel und seinen zwei Söhnen. Sie wurde geduldet, weil sie kochte, putzte und Wasser aus den Gräben des Viertels, den Fleeten, holte. Die Nächte verbrachte sie zwischen Herd und Tisch auf einer Unterlage aus Kartons. Manchmal fand sie trotz bleierner Müdigkeit nicht in den Schlaf, und um das Schaben der Kakerlaken auf dem Holzboden nicht hören zu müssen, begann sie in einer dieser einsamen Stunden, auf den Kartons zu zeichnen. Im Mondlicht, das durch das Fenster fiel, lehrte sie sich selbst verschiedene Techniken, studierte Abbildungen in Zeitungen und auf Handzetteln und entdeckte dabei ihre Stärke: Bilder, die sie einmal gesehen hatte, blieben in ihrem Kopf wie in einem Album. Später konnte sie sie nach Belieben wieder hervorholen, anschauen und zu Papier bringen. Oft entdeckte sie dabei Details, die ihr vorher nicht aufgefallen waren.

Mit ihrer Kunst konnte sie etwas auf dem Markt verdienen, und im Alter von vierzehn sagte sie dem Schimpfen des Onkels und den Schikanen der Cousins Lebwohl. Für ein eigenes Zimmer oder auch nur eine eigene Ecke eines Zimmers reichte ihr Geld zwar nicht, aber viele Bewohner des Viertels nahmen Schlafgänger auf, Menschen, die ihre Betten stundenweise benutzen durften. Alma kam bei der Familie eines Gemüsehändlers unter, und wenn sie abends ihren Kopf auf das Kissen legte, roch sie darauf noch den zweiten Mieter des Betts, einen Arbeiter der Hafenspätschicht. Jeden Morgen musste sie im Voraus bezahlen, damit ihr Platz für den Abend frei gehalten wurde, aber heute hatte sie das nicht gekonnt, und das machte ihr Sorgen.

Es wurde immer schwerer, in der ohnehin vollen Altstadt eine Bleibe zu finden, weil die Stadtoberen kürzlich beschlossen hatten, die Gängeviertel, die es auch auf dem Wandrahm und in der Neustadt gab, abreißen zu lassen. Die Choleraepidemie hatte in den schmutzigen Gassen nahe des Hafens ihren Anfang genommen und sich von dort auf die vornehmen Viertel ausgebreitet, und dergleichen konnte wieder geschehen. In der Zeitung stand, dass die Behausungen ohne Kanalisation wie kranke Organe seien, die man aus Hamburgs Bauch schneiden müsse, sollten sie nicht die gesamte Stadt vergiften. In der südlichen Neustadt hatte man schon begonnen, Häuser abzureißen, und auf der Suche nach neuer Unterkunft überschwemmten die Wohnungslosen die Altstadt.

»Größer, höher, breiter«, sagte Frau Brook. »Die Hamburger Kaufleute haben die Nasen schon immer hoch getragen, aber mittlerweile halten sie sich für Adel. Zu Zeiten meiner Großeltern war noch alles unter einem Dach, Lager, Kontor und Wohnung, aber heute will man den Arbeitsplatz von der Wohnstätte trennen. Keiner soll mehr sehen, dass man für sein Geld überhaupt noch etwas tut.«

Sie zog die Handschuhe aus. Ihre Fingernägel waren kurzgeschnitten und ohne Nagelhäutchen, wie die von jemandem, der sich täglich die Hände mit einer Bürste reinigte.

Die Orangerie - LESEPROBEWhere stories live. Discover now