Alma entdeckt den Tempel der Botanik

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Wenn Alma zeichnete, machte sie große Dinge klein, in diesem Buch aber, waren kleine Dinge groß. Der Erschaffer der Werke musste mehrere Tage für ein Bild gebraucht haben. Hätte ein Straßenmaler sich an dergleichen versucht, wäre er bei der Arbeit verhungert. Bananenstauden in solcher Perfektion zu zeichnen, konnte sich nur jemand leisten, der in einem warmen Raum an einem großen Tisch saß, vielleicht neben einer Wanduhr, deren Ticken ihn aber nicht antrieb. Der Glückliche musste nicht hetzen, besaß Zeit im Überfluss und würde erst aufhören, wenn er ganz und gar zufrieden war. Almas Finger zitterten vor Schwäche, und sie brach ihre Zeichnung ab. Ein kleines Stück vom Stamm der Bananenstaude hatte sie geschafft, mehr nicht, und die Maserung war auch nur angedeutet und nicht so fein wie im Original. Aber warum weitermachen? Besser sparte sie ihre verbleibenden Kräfte für eine Arbeit, die ihr bezahlt wurde.

»Zeig mal her«, sagte eine Stimme.

Eine Dame beugte sich herunter und streckte ihre behandschuhte Hand nach dem Block aus. Alma reichte ihn ihr zögerlich.

»Du verstehst dich auf das Abbilden von Pflanzen?«, fragte die Dame. »Ich züchte exotische Blumen und suche jemanden, der Blüten darzustellen weiß. In der Kunstgewerbeschule war ich schon, aber die jungen Leute dort streben nach Wahrhaftigkeit, das kann ich nicht brauchen. Ich möchte mit den Bildern werben, sie sollen die Schönheit der Blumen übertreiben. Kannst du so etwas?«

Sie kniff die Augen zusammen und musterte Almas Finger, als könne sie aus den Knochen unter der Haut eine Antwort ablesen. Alma unterdrückte das Zittern und steckte sich den Stift umständlich hinter das rechte Ohr, um Zeit zu gewinnen. Pflanzen zeichnete sie erst, seit sie das Magazin besaß.

»Mit Natur bin ich gut«, sagte sie.

Dabei dachte sie an die Dirnen, die in der Kammer neben der Küche des Gemüsehändlers abwechselnd ihren Geschäften nachgingen. Eine war jung und ließ sich selten in der Wohnung blicken, aber Ännie, die ältliche, liebte es, ein Pläuschchen am Ofen zu halten, manchmal kaum bekleidet, und ihr Anblick hatte sich in Almas Gedächtnis gebrannt. Sie war es, die Alma vor ihrem inneren Auge sah, wenn sie erotische Szenen zeichnete.

»Die Pracht betonen, die welken Stellen weglassen, darauf kommt's an, nicht?«, fragte Alma.

Ein Lächeln breitete sich über das Gesicht der Dame aus.

»Agathe Brook ist mein Name. Wir beide sind im Geschäft.«

»Freut mich. Soll ich gleich ...«

»Mitkommen? Das wäre wunderbar. Ich helfe dir, zusammenzupacken.«

Frau Brook ordnete Almas Zeichnungen zu einem Stapel, schüttelte das Tuch aus und wartete, bis Alma alles in ihrem Bündel verstaut hatte.

»Meine Mietkutsche wartet um die Ecke«, sagte sie.

Resolut bahnte sie sich ihren Weg durch die Marktbesucher, den Rock mit einer Hand gerafft, um schneller gehen zu können. Alma bemerkte, dass der Saum von Frau Brooks Kleid schmutzig war und dass ihre Füße in flachen Männerschuhen steckten, deren Leder sie an der Ferse heruntergetreten hatte, um sie wie Pantoffeln tragen zu können. War die Dame exzentrisch und achtete deshalb nicht auf ihr Äußeres? Oder war sie ebenfalls arm? Alma beschloss, vorsichtig zu sein. Die Mietkutsche jedenfalls, wartete tatsächlich hinter einer Häuserecke. Das war beruhigend. Hamburgs Kutscher hatten einen Riecher für Kunden, die nicht zahlen konnten. Frau Brook und Alma stiegen ein, und die Kutsche fuhr los, Richtung Alster.

Wenn man sich von den Hafenvierteln wegbewegte, war es, als ob die Stadt sich auftäte. Die Häuser wurden zu Villen, die Vorgärten zu Parks, und als sie in den Harvestehuder Weg einbogen, in dem Alma noch nie zuvor gewesen war, glaubte sie sich in einer anderen Welt. Entlang der Allee standen zwei- und dreigeschossige Prunkbauten mit Säulen und Laubengängen. Die imposanten Fassaden wären jede für sich einer Ansichtskarte würdig gewesen, doch Alma sammelte ausnahmsweise einmal keine Motive, sie konnte nur eines denken: was für eine Verschwendung von Platz! Durch die Eingangsportale hätte man einreiten können, und die Stockwerke waren so hoch wie eine dreigeschossige Bude. Stünden diese Villen im Gängeviertel, wären Zwischendecken eingezogen worden, und man hätte Hunderte Menschen in einer einzigen dieser Residenzen untergebracht. Wie viele mochten hier darin wohnen? Eine einzelne Familie wahrscheinlich bloß, und in dieser Gesellschaftsschicht bestand die lediglich aus einem Ehepaar und seinen Kinder. Die weitere Verwandtschaft hatte ihre eigenen Paläste.

Die Orangerie - LESEPROBEWhere stories live. Discover now