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Noch 48 Stunden

Ich hatte den ganzen Tag versucht Marlene zu erreichen, doch sie ging einfach nicht an ihr verdammtes Telefon. Als ich dann gegen Mittag bei ihr Zuhause angerufen hatte, und ihre Mutter den Hörer abnahm, konnte ich meine beste Freundin im Hintergrund flüstern hören. Ihre Mutter jedoch erklärte mir, dass es Marlene nicht gut ginge und sie daher nicht mit mir nach New York fahren könnte. Sie würde sich wohl einen Flug buchen, oder so. Nach der enttäuschenden Nachricht hatte ich nicht mehr wirklich zugehört. Es hatte mich nicht interessiert, was für eine Ausrede mir Marlenes Mutter auftischen wollte, ich wusste, dass es nicht die Wahrheit war und das schmerzte viel mehr als die Hilflosigkeit, die ich jetzt empfand.

Die Planungen für den Roadtrip waren also für den Arsch. 20 Stunden habe ich für die detaillierten Karten, die Sehenswürdigkeiten auf dem Weg und den Fahrplan investiert - und für was? Marlene hatte nicht einmal den Mut mir persönlich abzusagen. Es war lediglich eine SMS eingegangen.

"Kann nicht mitfahren. Sorry."

Als ich sie nach den Gründen fragen wollte, hatte sie nicht einmal mehr abgehoben. SMS wurden nicht mehr beantwortet und auch ihre Mutter log für sie. Auch wenn ich es nicht wahrhaben wollte, aber das war typisch für Marlene. Sie versteckte sich gerne hinter ihrer Mutter, wenn es eng wurde.

Ich dagegen hatte meine Mutter im Büro angerufen, hatte in den Hörer geschluchzt und gehofft, sie könnte mir ebenfalls aus der Misere helfen. Wie sich herausstellte, war sie nicht gerade eine begnadete Trösterin. Nein, sie war schlichtweg alles andere als das. Sie hatte sogar erwähnt, wie froh sie nun sei, dass ich nun nach New York fliegen müsste und sie sich keine Sorgen über eine Panne oder einen Buchungsfehler bei den Motels machen müsste. Auch ihre Sorge wegen der Raubüberfälle und Verschleppungen wäre nun gemindert. Ich dagegen heulte nur noch lauter.

Nach einer weiteren SMS an Marlene, ließ ich mich nach hinten in die Lehne meines Schreibtischstuhls sinken und verzweifelte. Meinen Truck hatte ich vor wenigen Wochen noch einmal überholen lassen, damit er uns sicher bis nach New York bringen konnte. 4.864 Kilometer waren für ein 16 Jahre altes Auto kein Zuckerschlecken und für mich allein war die Strecke ebenfalls zu lang. Es war ein aussichtsloses Unterfangen. Am liebsten hätte ich Marlene erwürgt, dabei hätte ich eigentlich mit ihrer Absage rechnen sollen. Sie hatte sich schon in den letzten Wochen immer weiter von mir distanziert, mit der Ausrede, sie müsste für die letzten Prüfungen lernen. Von wegen.

Gegen neun kam dann endlich meine Mum nach Hause, deren Grinsen hätte nicht breiter sein können, was mir wiederum nur noch mehr die Stimmung verhagelte. Konnte sie ihre Erleichterung nicht für sich behalten? Ich hatte gerade eben erst einen Traum aufgeben müssen und kämpfte noch mit dem Herzschmerz darüber. Ihre einzige Tochter war zu Tode betrübt, da hätte sie ruhig ein wenig Mitleid zeigen können. 

"Ich habe tolle Neuigkeiten, Käferchen!", klatschte sie in die Hände.

Das sie mich trotz meiner Volljährigkeit noch immer so nannte konnte ich zwar nicht leiden, aber im Moment war es mir völlig egal. Sie hätte mich auch ganz andere Dinge rufen können. Heulsuse zum Beispiel. Dabei hätte ich sie sogar kräftigt unterstützt, denn der Wasserpegel in meinen Augen stieg schon wieder an. Doch Mum fasste mich plötzlich an den Armen und tanzte mit mir durch die Küche.

"Mum...stopp...", lachte ich nun doch wiederwillig und schluckte den dicken Kloß im Hals hinunter. "Was sollen das denn für tolle Neuigkeiten sein?"

"Ich habe dir einen Mitfahrer besorgt. Hier...", sie suchte nach Etwas in ihrer großen Handtasche, die sie trotz des darin befindlichen Chaos in und auswendig kannte. "Ach, hier, genau. Das ist die E-Mailadresse von Logan, er ist der Sohn von Angie, du weißt schon, die Arbeitskollegin die für jeden einen Geburtstagskuchen backt. Ich hab dir schon ein paar Mal etwas mit nach Hause gebracht, weißt du noch?"

"Mum, komm zum Punkt, bitte!"

"Na, jedenfalls studiert er schon seit zwei Jahren in New York an der...wie hieß die noch gleich...auch egal. Schreib ihn doch einfach mal an und sieh, ob ihr den Roadtrip gemeinsam machen könnt."

Vorsichtig nahm ich ihr den Zettel aus ihrer Hand, der mir meinen Wunsch doch noch erfüllen könnte. Nun, es war noch nichts ausgemacht und es stand immer noch 50 zu 50, dass ich ein Ticket nach New York buchen musste, aber Logan war eine Chance. Vor Freude drückte ich meiner Mum einen Kuss auf die Wange und rannte in mein Zimmer, um diesem Logan, meinem Retter, gleich mal zu schreiben.

Frei wie ein VogelWhere stories live. Discover now