DREI

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„Hey, steh hier nicht so im Weg rum!", ertönte in dem Moment eine selbstbewusste Stimme. Kurz darauf wurde ich von einem hellblonden Jungen mit einer blauen Trainingsjacke beiläufig zur Seite geschoben. Er war sehr groß, hatte einen muskulösen Körperbau und stechend blaue Augen. Mit seiner hellen Haut und den kurzen blonden Haaren sah er aus wie der Kapitän einer schwedischen Fußballmannschaft oder des Hockeyteams. Obwohl ich es nicht mochte, ungefragt angefasst zu werden, lenkte es mich wenigstens von der seltsamen Begegnung mit dem dunkelhaarigen Typen ab.

„Dir muss das Training ja einiges abverlangen, wenn du es nicht mal schaffst, einen Bogen um mich zu laufen", erwiderte ich kühl und ging weiter die Treppe nach oben.

Der Junge schnaubte überheblich. „Du checkst es einfach nicht, oder? Klar könnte ich einen Bogen um dich laufen, der springende Punkt ist, dass ich keinen Bock darauf habe. Außerdem bin ich es gewohnt, dass man mir Platz macht."

Ich nahm einen Schluck von meinem Chai Latte und zog eine Augenbraue hoch. „Funktioniert das auch im Straßenverkehr? Ich würde zu gern sehen, wie du bei Rot über die Kreuzung gehst."

Er lächelte eingebildet, als wir durch das hohe Eingangstor traten. „Und ich würde zu gern sehen, wie du dich jetzt einfach in Luft auflöst. Anscheinend bekommen wir beide nicht, was wir wollen." Er hielt kurz inne. „Moment, ich schon." Mit diesen Worten widmete er sich seinem Smartphone und ließ mich stehen.

Ich blickte ihm kopfschüttelnd hinterher. Anscheinend gab es in dieser Schule nur Idioten. Allerdings verdammt gutaussehende Idioten, flüsterte eine Stimme in mir und ich musste wieder an den Schwarzhaarigen mit den dunkelgrünen Augen denken. Entschieden schob ich alle Gedanken an ihn zur Seite und sah mich dann in dem Schulgebäude um. Obwohl es riesig war und über unendlich viele Treppen verfügte, war das Sekretariat gut ausgeschildert und ich folgte den Pfeilen zu einem hellen Raum mit Topfpalmen und Strandbildern. Anscheinend versuchte sich die Schulsekretärin mithilfe ihrer Umgebung innerlich an einen weißen Sandstrand zu versetzen und ich konnte mir lebhaft vorstellen, dass sie sich wünschte, jeden Morgen auf Hawaii statt in dieser 133-Regentage-Stadt aufzuwachen.

Nachdem ich von ihr meinen Stundenplan ausgehändigt bekommen hatte, verließ ich das Sekretariat und knallte dabei beinahe in einen Jungen mit wuscheligen dunkelblonden Locken. Seine Haut war gebräunt und er erinnerte mich an Matthias Schweighöfer, nur irgendwie größer und muskulöser.

„Sorry". Er lächelte mich charmant an und machte einen Schritt zurück. „Meine Schuld. Ist mein erster Tag hier und ich hab gedacht, ich finde das verdammte Sekretariat nie."

Ich lächelte zurück und bekämpfte den Drang, einen blöden Witz über die gefühlten tausend Hinweisschilder mit Pfeilen in Richtung Sekretariat zu machen.

„Ich bin Louis", sagte er und ließ den Blick aus seinen warmen braunen Augen einmal kurz über meinen Körper schweifen. Dabei lächelte er mich freundlich an und ich drückte den Stundenplan und meinen Chai Latte etwas enger an meine Brust. Nach den beiden bisherigen Kontakten an dieser Schule war es beinahe merkwürdig, so wohlwollend betrachtet zu werden.

„Jo", stellte ich mich vor.

„Du bist auch neu?", fragte er mit einem Blick auf meinen Stundenplan.

Ich nickte und strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr. „Vor einer Woche hergezogen."

„Ganz schön beschissen, mitten im Jahr die Schule zu wechseln, oder?", fragte Louis und wich zur Seite aus, als eine Horde Fünftklässler lärmend an uns vorüberzog.

„Na ja, ich bin es gewohnt", gab ich abgelenkt zurück.

Louis sah mich neugierig an. „Ach ja? Wieso das?"

Ich biss mir auf die Lippen und bereute es, meinen Umzugs-Highscore schon mit meinem zweiten Satz offenbart zu haben.

Rasch zuckte ich mit den Schultern und versuchte meine Aussage herunterzuspielen. „Mein Vater muss beruflich manchmal umziehen."

„Na dann", sagte Louis, „werde ich dich in der Cafeteria mal auf einen Kaffee einladen. Vielleicht hast du ja ein paar ultimative Schulwechsel-Tipps für mich."

Ich schmunzelte. „Du meinst so was wie: Man sollte versuchen, nicht gleich am ersten Tag zu spät zu kommen?"

„Mist." Er zog rasch sein Handy aus der Jeans. „Ist es echt schon so spät?" Nach einem Blick auf das Display fluchte er. „Okay. War nett, fast in dich hineingerannt zu sein." Mit diesen Worten riss er die Tür zum Sekretariat auf und knallte dabei fast in eine schlanke Frau mit glatten roten Haaren. Sie trug eine violette Seidenbluse zu einer dunklen Jeans und ließ vor Schreck ihre Unterlagen fallen.

„Oh mein Gott. Sorry", stammelte Louis und fuhr sich beschämt durch seine dunkelblonden Locken. „Erster Tag, und ich renne gleich zwei hübsche Frauen beinahe über den Haufen. Tut mir leid."

„Nicht so schlimm", antwortete die rothaarige Frau und lächelte Louis an. „Schlimmer wäre es gewesen, wenn du den Inhalt ihres Bechers auf meine neue Bluse geschüttet hättest." Dann sah sie mich an. „Hallo, du musst Johanna sein. Ich bin Frau Engel und unterrichte Biologie. Du kannst gleich mitkommen, wir haben die erste Stunde zusammen." Sie ging in die Knie und begann die Unterlagen aufzusammeln. Louis bückte sich ebenfalls mit gehetztem Gesichtsausdruck, um zu helfen.

„Geh nur rein", sagte ich aus einem Impuls heraus zu Louis. „Ich helfe Frau Engel."

Er blickte unschlüssig zu der Biologielehrerin, die zustimmend nickte, und seufzte erleichtert.

„Danke", flüsterte er dann in meine Richtung und stieß die Tür zum Sekretariat auf.

„Das war nett von dir", sagte Frau Engel und sammelte einige eng mit Namen beschriebene Listen ein. Ich kniete mich auf den Boden, um ihr zu helfen. „Ich bin mir sicher, du wirst dich bei uns wohlfühlen, Johanna", erklärte sie.

„Jo", verbesserte ich automatisch und hörte ein Räuspern hinter mir. Als ich mich umdrehte, beschleunigte sich mein Herzschlag. Hinter mir auf dem Gang stand wieder der schwarzhaarige Typ von der Treppe. Der Ausdruck in seinem Gesicht war genauso feindselig wie zuvor und seine dunkelgrünen Augen schienen jede meiner Bewegungen zu erfassen. Ich atmete kontrolliert aus. Meine Reaktion war absolut lächerlich und ich hoffte, dass er nichts bemerkt hatte.

„Okay, dann nenne ich dich Jo", sagte Frau Engel und richtete ihren Blick auf den Jungen hinter mir. „Hallo, Adrian. Bringst du mir den Schlüssel für das Kopierzimmer?"

Er nickte, ohne mich aus den Augen zu lassen, und machte einen Schritt auf die Lehrerin zu. Plötzlich fühlte ich mich, als säße ich in der Falle. Mein Puls raste und ich betete nur, dass ich nicht rot werden würde. Rasch drückte ich Frau Engel die restlichen Zettel in die Hand und streifte dabei mit den Fingerspitzen unabsichtlich ihr Handgelenk. Dann keuchte ich auf, als mich plötzlich irgendetwas nach vorn riss.

17 - Das erste Buch der ErinnerungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt