ZWEI

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In der Nacht schlief ich schlecht. Anscheinend hatte ich wieder einen Albtraum, an den ich mich am nächsten Morgen nicht erinnerte, denn mein T-Shirt war völlig durchgeschwitzt. Als ich aufstand, präsentierte sich der neue Tag trüb, grau und nebelig. Da meine Stimmung ohnehin schon am Boden war, deprimierte mich der Blick aus dem Fenster jedoch nicht übermäßig, sondern traf genau meine Erwartungen an diese Stadt. Gähnend tappte ich ins Badezimmer und duschte so lange, bis das heiße Wasser aufgebraucht war. Dann griff ich nach meiner grauen Lieblingsjeans sowie einem schwarzen T-Shirt, bürstete mir die Haare und hörte noch kurz etwas Musik. Ich mochte die traurigen Texte der Band NEBEN und vor allem mochte ich die raue Stimme des Sängers. Während ich noch ein paar Songs lauschte, blätterte ich nebenbei in einem GEO Magazin und riss mich erst los, als es an der Zeit war, zur Schule zu gehen. Dann schnappte ich mir meinen Rucksack und ging die Treppe hinunter, um den ersten Tag hinter mich zu bringen.

Mein Vater saß schon mit einer Tasse Kaffee am Frühstückstisch und las Zeitung. Sein Gesicht wurde dabei zur Hälfte verdeckt, sodass nur seine grauen Augen hinter der eckigen Brille und seine Glatze zu sehen waren. Ohne Brille hatte mein Vater eine verblüffende Ähnlichkeit mit Professor Xavier aus X-Men, auch wenn er etwas größer war und keine Gedanken lesen konnte. Wobei er bei meinem aktuellen Gesichtsausdruck wohl auch keine Gedanken zu lesen brauchte.

„Guten Morgen, Jo", sagte mein Vater, blickte von seiner Zeitung auf und faltete sie langsam zusammen.

„Morgen", murmelte ich und öffnete die Kühlschranktür. Gähnende Leere erwartete mich dahinter und das neue Gerät verströmte noch diesen chemischen Industriegeruch – es kam mir so vor, als würde es überall in diesem Haus nach Farbe und Chemie stinken.

Mit einem Seufzen schloss ich die Tür und schnappte mir einen Apfel aus der Obstschale. Er war nicht mehr ganz frisch, aber besser als gar nichts.

„Ich muss heute unbedingt einkaufen gehen", sagte mein Vater und trank den letzten Schluck seines Kaffees leer.

Ich biss in den Apfel. „Kein Ding. Ich hab sowieso nicht viel Hunger."

Mein Vater, der wie immer ein kariertes Hemd trug, stand auf und stellte seine leere Tasse in die Spüle. „Soll ich dich zur Schule fahren?" Er warf einen kurzen Blick aus dem Fenster. „Es sieht so aus, als ob es jeden Moment zu regnen anfängt."

„Hm, sieht ganz danach aus", gab ich so sachlich wie möglich zurück. „Laut meteorologischer Statistik hat Hamburg 133 Regentage pro Jahr. Man kann also davon ausgehen, dass es an jedem dritten Tag regnen wird. Hast du vor, mich dann jedes Mal zu fahren?" Der letzte Satz kam etwas schärfer aus mir heraus, denn es nervte mich, dass er jetzt so tat, als ob ihn das bescheuerte Wetter überhaupt kümmerte. Es hatte ihn schließlich niemand gezwungen, den Job in Hamburg anzunehmen.

„Jo, bitte lass das", sagte mein Vater.

„Du wolltest hier herziehen, nicht ich", sagte ich vorwurfsvoll und schnappte mir meinen Rucksack. „Bis später."

„Es gibt da etwas, über das wir reden müssen, so schnell wie möglich", fügte er hinzu, doch da war ich schon an der Tür.

„Klar, was immer du willst – aber jetzt muss ich wieder zu einer neuen Schule", rief ich ihm zu und verließ das Haus, ohne noch einmal zurückzusehen.

Auf dem Weg die Straße runter versuchte ich die Entscheidung meines Vaters und diese nasskalte Stadt ein bisschen weniger abzulehnen. Wir waren in eine breite Straße mit hohen Kastanienbäumen gezogen und ich wich einigen großen Pfützen aus, während ich das Gespräch im Geiste Revue passieren ließ, bevor ich mir selbst befahl, damit aufzuhören.

Es machte keinen Sinn, in der Vergangenheit herumzustochern, selbst wenn diese noch keine fünf Minuten alt war.

Ein paar Häuser weiter stand ein großer Umzugswagen auf der anderen Straßenseite und ich verlangsamte automatisch meine Schritte, während ich hinübersah. Ein blonder Typ um die vierzig diskutierte gerade mit einem keuchenden Möbelpacker. Anscheinend ging es um einen wertvollen Kirschholzschrank, der nicht durch die Eingangstür passte. Unser neuer Nachbar warf immer wieder sorgenvolle Blicke gen Himmel und schien zu bereuen, hierhergezogen zu sein. Wie gut ich ihn verstehen konnte.

Als das Schulgebäude aus rotem Ziegelstein in Sicht kam, legte sich ein unangenehmes Gewicht auf meine Brust. Obwohl man meinen sollte, dass ich genug Übung darin hatte, immer wieder neu anzufangen, konnte ich die ersten Tage an einer neuen Schule nicht leiden. Ich konnte die anfängliche Aufmerksamkeit genauso wenig ausstehen wie die wertenden Blicke und die oberflächlichen Gespräche. Ich war einfach nicht gut in Small Talk. Unglücklicherweise war ich auch nicht gut darin, fremde Leute an mich ranzulassen, was jede tiefer gehende Unterhaltung ausschloss. Nur bei Pippa und Franzi war es irgendwie anders gewesen – vielleicht weil die beiden direkt auf mich zugesteuert waren und mir mit ihrer offenen, lustigen Art gar keine andere Chance gelassen hatten, als sie zu mögen. Mit ihrem verrückten Reuespiel hatten sie meinen Schulalltag ordentlich aufgepeppt und nachdem ich begonnen hatte, meine Aufmerksamkeit der imaginären Reue meiner Mitmenschen zu widmen, ließ sich diese Angewohnheit nur schwer wieder ablegen – denn die Reue versteckte sich überall. Auf dem Weg hierher hatte ich mir einen Chai Latte gekauft und dabei eine Mutter mit schreienden Zwillingen gesehen, die es definitiv bereute, kein Kindermädchen eingestellt zu haben. Zurück auf der regennassen Straße, war mir ein Mann im Businesslook über den Weg gelaufen, der laut fluchend bereute, in eine Pfütze gestiegen zu sein.

Ich nahm einen Schluck von meinem heißen Tee. Irgendwann würde ich vielleicht auch dahinterkommen, was genau mein Vater bereute, der oft abwesend und in Gedanken versunken wirkte. Ich war mir sicher, dass es etwas mit Mamas Tod zu tun hatte, da er seitdem ruhelos von einem Ort zum nächsten gezogen war. Deshalb wünschte ich mir so gut wie täglich, er würde seine Erinnerungen endlich mit mir teilen.

Ein lauter werdendes Gekicher ringsum lenkte meine Aufmerksamkeit wieder ins Hier und Jetzt. Auf der breiten Treppe, die zum Eingangstor der Schule führte, sah ich ein pummeliges Mädchen mit schwarzen Locken und Sommersprossen, das einen knallroten Mantel zu neongrünen Stiefeln trug und mit dieser Farbkombination für allgemeine Erheiterung sorgte. Der zornige Blick, den sie den kichernden Mädels zuwarf, signalisierte, dass sie es noch bereuen würden, sich über ihr modisches Experiment lustig gemacht zu haben. Dennoch führte jedes verächtliche Lachen dazu, dass sich ihre Wangen etwas dunkler färbten, bis ihr Gesicht zu glühen schien und mit dem knallroten Mantel um die Wette leuchtete.

Ich rückte meinen Rucksack auf der Schulter zurecht, während ich die Treppe nach oben ging. Das Mädchen in dem gewagten Outfit tat mir leid, denn obwohl sie offensichtlich versuchte, sich nicht unterkriegen zu lassen, sah man ihr an, dass sie die Reaktionen ringsum auch nicht kaltließen. Ich betrachtete im Vorbeigehen die gertenschlanke Schülerin mit dem tiefroten Lippenstift, von der der meiste Spott ausging, und überlegte, ob ich mich einmischen sollte, als ich hinter mir jemanden leise schnauben hörte. Automatisch drehte ich mich um. Das Geräusch kam von einem schwarzhaarigen Typen, der hinter mir die Treppe hochkam und um den alle einen Bogen zu machen schienen. Er betrachtete missbilligend das Mädchen mit den roten Lippen, das daraufhin zu grinsen aufhörte und rasch weiterging, bevor sein verärgerter Blick zu mir schwenkte. Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich ihm direkt in die funkelnden dunkelgrünen Augen und mein Puls schoss in die Höhe. Normalerweise reagierte ich nicht so auf Jungs, aber dieser hier war irgendwie anders. Eine düstere Aura schien von ihm auszugehen. Sein Blick war unglaublich intensiv und dazu kam, dass er wirklich verboten gut aussah. Seine Haare waren kurz geschnitten und er hatte ein kantiges Gesicht, das nicht den Anschein erweckte, als ob er jemals damit lächelte. Seine Züge waren ebenmäßig; er hatte eine gerade Nase und volle Lippen und noch während ich seinen Anblick in mich aufsaugte, kam er weiter auf mich zu. Allerdings beachtete er mich längst nicht mehr. Erst als wir beide auf derselben Stufe standen, erstarrte er mitten in der Bewegung. Ich sah, wie er beinahe reflexartig sein linkes Handgelenk umfasste und seinen Kopf in meine Richtung drehte. Für einen Moment wirkte er überrascht, doch schon im nächsten Augenblick zeichnete sich unverhohlene Feindseligkeit auf seinen Zügen ab. Verwirrt versuchte ich, den plötzlichen Sinneswandel zu verstehen, doch da hatte er sich schon abgewandt und war mit schnellen Schritten in der Menge verschwunden.

Mit klopfendem Herzen sah ich ihm hinterher.

Was, bitte schön, war das denn gewesen? 

17 - Das erste Buch der ErinnerungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt