Zeit ist relativ

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"Was machst du hier?"
"Essen."
"Nein was machst du hier. Bei mir?"
"Essen."

Sie versteht nicht, dieser Junge verwirrt sie. Wieso will er das wissen? Ist es nicht offensichtlich, wieso redet er mit ihr? Sie traut sich kaum zu ihm aufzusehen, doch sie braucht ein Bild zu der Stimme, die so seltsame Fragen stellte. 

"Willst du mir dann wenigstens sagen wie du heißt?"
"Freya."

Hätte sie nicht so furchtbare Angst vor ihm, würde sie nicht antworten. Aber sie hat ihn erkannt. Er ist der Junge in Schwarz, wie sie ihn getauft hat. Er ist der, der Vorgestern einen Pfleger geschlagen hat. Er ist genau so einer von denen sie sich immer ferngehalten hat.
Doch ihr Arzt meinte, sie muss Kontakte knüpfen, wieso er es dann für eine besonder gute Idee hielt, dass sie mit dem Jungen in Schwarz Kontakt knüpfen sollte, versteht sie nicht.

Aber Freya versucht darüber nicht zu viel nachzudenken, sie versteht vieles nicht und das war anscheinend wieder eine der Sachen, die für alle Sinn macht, nur für sie nicht.
Schon vor langem hat sie gelernt sich nicht mehr den Kopf über so etwas zu zerbrechen. 

"Und wieso bist du hier?"
"Ich esse."
"Nein wieso bist du in der Klinik?"
"Weil ich anders bist."
"Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen, verdammt. Was für eine Krankheit hast du? Bist du echt so schwer von Verstand?"

Angst und Schmerz bauen sich in ihr auf. Wieso lässt er sie nicht einfach in Ruhe essen? Wieso lässt er sie nicht einfach in ihrer Welt leben? Eindeutig war er nicht anders. Er war genauso wie alle anderen und würde nicht mehr tun, als sie zu verletzen. Wieso verstand niemand, dass sie weg wollte von dem Schwarzen Jungen und zurück in ihre bunte Welt? Aber immer wenn sie gerade eintaucht in ein Land voller Glück und Farben, zieht er sie heraus.

"A-Asperger."

Zeit verging, doch Zeit ist relativ.
Das was zählt ist das Hier und Jetzt. Und im Hier und Jetzt sitzen der Junge in Schwarz in weißer Kleidung und Freya zusammen im Gemeinschaftsraum.
Im Hier und Jetzt erinnert er sich an keinen Moment in seinem Leben, an dem er mehr gezittert hat und sich schlechter gefühlt hat.
Im Hier und Jetzt erinnert Freya sich nicht, je mutiger gewesen zu sein.

"W-Wie hei-eißt du eigentlich?"
"Blake." 
"Das passt."
"Wieso passt das? Das ist ein Name, keine Kleidung."
"Du bist der Junge in Schwarz. und Blake bedeutet Schwarz."
"..."

"Heute redest du weniger als sonst."

"..."
"Geht es dir nicht gut?"
"Weißt du mir geht es blendend. Ich steh drauf nicht zu schlafen, Fieber zu haben und das Gefühl all meine Flüssigkeit auszuschwitzen finde ich besonders toll."
"Das ist seltsam."
"Du bist selt-"
Und zum ersten Mal in seinem Leben, sagt er nicht das was er denkt. Zum ersten Mal in seinem Leben, denkt er nach bevor er zu ende spricht und zum ersten Mal in seinem Leben, denkt er nicht nur an sich.

"Du bist.. selten."

"Selten hat mich noch nie einer genannt. Das gefällt mir mehr als anders. Ich bin selten."

Und zum ersten Mal seit langer Zeit lächelt sie außerhalb ihrer eigenen Welt.

Einiges an Zeit verging, doch Zeit ist relativ.
Das was zählt ist das Hier und Jetzt.
Und im Hier und Jetzt sitzen Blake und Freya im Park des weißen Hauses. Die Sonne scheint und Blumen lassen die Wiese in den verschiedensten Farben erstrahlen. 

"Wie geht es dir?"
"Besser."
"Heißt das, du schwitzt noch mehr und schläfst noch weniger?"
"Nein das war Sarkasmus letztens. Ich fühle mich gesünder und wie geht es dir?"
"Ich habe meine Welt erst vermisst, aber jetzt gefällt mir diese besser."
"Ist sie denn weg? Deine Welt, meine ich."
"Ich besuche sie nur nicht mehr."
"Wieso nicht? Du hast gesagt, sie ist bunter und schöner?"
"Mir gefällt es hier besser. Sieh die Blumen, hier ist es auch bunt. Ich hatte es zuvor nur nicht gesehen."
"Und was ist mit den Menschen? Ich dachte, du magst sie nicht?"
"Einen schon."
"..."
"Und wie ist es bei dir? Gefällt dir noch immer schwarz mehr als bunt?"
"Ich fange an weiß zu mögen. Es ist das Licht und das Licht gefällt mir, Freya."
"Das verstehe ich nicht."
"Das wirst du noch."

Ihr Schock übermannt sie kurz, wird jedoch besiegt von diesem neuen Gefühl. Das Kribbeln in ihrem Bauch, der schnelle Herzschlag, die Lippen auf ihren sind alle so fremd für sie, aber doch so wunderschön. Sie wünscht sich, dieser Augenblick würde nie enden und wenn man Zeit als relativ sieht, tut er es auch nicht.

Doch Zeit ist nicht relativ.
Er löst seine Lippen von ihren, überwältigt von all den Gefühlen und Gedanken in ihm, die er schon viel zu lange betäubt hatte. 

"Freya bedeutet Licht. Weißt du das nicht?"

Und seit langem konnte auch er lächeln. 

Einiges an Zeit verging, nicht relative Zeit, sondern die schönsten 63 Tage in dem Leben von Blake und Freya.
Er wünscht Zeit wäre relativ, er wünscht er würde nun nicht seine schwarze Kleidung zurück bekommen.
Sein Blick schweift über die weißen Wände, weißen Böden, weißen Türen und weißen Decken. Weiß wo auch immer er hin sieht. Es steht so sehr im Kontrast zu ihm, dem Jungen in Schwarz. Doch genau das ist es, was ihm gefällt.

Weiß ist anders als andere Farben, es ist so rein und unschuldig, es verkörpert nichts anderes als das Gute, lässt keinen Raum für nur einen Hauch von Dunkelheit. Weiß ist das Licht am Ende seines Tunnels, in dem er schien fast am Ende gewesen zu sein und nun wieder von der Dunkelheit verschlungen wird. 

Nur eine Glasscheibe, dünn und durchsichtig, trennt sie voneinander. Es ist nur so wenig Distanz zwischen ihnen, doch ob ein paar Zentimeter oder tausende Kilometer. Distanz bleibt Distanz.

"Blake?"
"Ja?"
"Der Name passt nicht mehr zu dir."
"Dafür deiner umso mehr. Bleibst du jetzt in dieser Welt?"
"Wenn du es auch tust, ja."
"Versprochen?"
"Versprochen."

Die Zeit verging, die Distanz blieb.

Und sie bricht die zwei Dinge, die man niemals brechen sollte.
Ein Versprechen und ein Herz.
Freya ging zurück. Zurück in ihre Welt. An einen Ort in dem er und sie ohne Distanz existieren, ein Ort an dem alles bunt und schön ist und Zeit relativ.

Doch als sie ging, vergaß sie, dass sie mit sich, das Licht eines anderen nahm. Das Licht am Ende seines Tunnels verschwindet. Sie hört ihn nicht mehr wenn er ruft, sie sieht ihn nicht mehr wenn er vor ihr steht. Sie ist weg an einem schöneren Ort. Ein Ort, an den auch er möchte. 

HirngespinsteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt