Scham ist so ein unbekanntes Wort

21 1 3
                                    

Die restlichen Schulstunden vergehen viel zu langsam. Die meiste Zeit über, wenn Tory hinter mir kichert, beiße ich die Zähne zusammen und presse meine Lippen aufeinander. Collin beobachtet mich dabei mit mitleidigem Blick und streichelt meine Schulter. Als will er mir symbolisieren, dass ich mich nicht aufregen sol. Aber er hat keine Ahnung. Er weiß nicht, was in Torys Zetteln steht. Er weiß nicht, was bei mir Zuhause passiert. Er weiß nur, dass sie vorgibt, mich zu hassen.

Als es endlich klingelt, kann ich es gar nicht mehr erwarten und springe von meinem Stuhl auf. Bevor Collin überhaupt aufgestanden ist, hänge ich meine Tasche schon um die Schulter und stürme nach draußen. Er sieht mir nur kurz hinterher, beeilt sich aber nicht, mir nachzukommen. Allerdings will ich nicht darauf warten, dass am Ende noch Tory vor ihm aus dem Klassenzimmer kommt, also hänge ich mich an Rommy und Jessi.

»Vergiss Richies Party nicht. Ich bin mir sicher, er freut sich, wenn du kommst«, behauptet Rommy breit grinsend, aber ich glaube ihr nicht so recht.

»Der gleiche Richie, der mir vor ein paar Wochen noch befohlen hat, meinen fetten Arsch zur Seite zu bewegen, dass er sich setzen kann?« Ich ziehe eine Augenbraue hoch und Rommy zuckt mit den Schultern.

»Er wollte sich eben neben dich setzen«, behauptet sie kleinlaut. An ihrem Spint machen wir halt. Sie hat so ziemlich alles da drin, was sie für ihr Überleben an der Schule braucht. Sogar immer ein extra Paar Armstulpen, für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie ihre verliert. Ich quittiere ihre Müllhalde nur mit einem schiefen Blick.

»Ganz bestimmt wollte er nur neben die heiße Becci«, lacht Collin hinter mir und bemüht gar nicht, den Sarkasmus zu verstecken. Er legt seinen Arm um meine Schultern. Ich schüttle ihn von mir ab, als ich Rommys überbreites Grinsen sehe, und stoße ihm gegen die Schulter. Dass ich ihn wütend ansehe, bringt ihn nur noch mehr zum Lachen.

»Du darfst gerne auch kommen«, bietet Rommy ihm schließlich an und ich höre auf, ihn mit Schlägen zu attackieren. Die Situation nutzt er und verschränkt langsam seine Finger mit meinen. Als will er Rommys Verdacht bestätigen. Als will er alle provozieren. Als will er jedem zeigen, dass er zu mir gehört. Er nickt mit gespielter Ernsthaftigkeit.

»Ich werd da sein, keine Sorge. Und meinen kleinen Partymuffel bringe ich natürlich auch mit.« Er hebt unsere ineinander verschränkten Hände hoch, um ihr zu zeigen, dass er mich meint, obwohl das sowieso klar war.

Sie nickt zufrieden und macht ihren Spint zu, ohne überhaupt etwas rein oder rausgetan zu haben. »Prima. Für Essen und Trinken ist gesorgt. Eher für Trinken, so wie ich meinen Bruder kenne«, murmelt sie.

Sascha sieht mich gar nicht. Das ist auch der Grund, wieso er mich einfach über den Haufen rennt. Obwohl Collin versucht, mich vor dem Umfallen zu bewahren, lande ich schnurstracks auf dem Boden und Sascha direkt auf mir. Erschrocken sieht er mich an und stammelt eine Entschuldigung, was mir allerdings nicht gerade auf die Beine hilft. Er rappelt sich schnell auf und hat die Augen noch immer aufgerissen. Na nu, wird da jemand etwa gerade rot? So kenne ich ihn ja gar nicht. Den coolen Sascha, von dem alles abprallt, wie von Panzerglas. Er streckt mir seine Hand entgegen und zieht mich nach oben. Er merkt im ersten Moment gar nicht, dass er mich eine ganze Weile festhält und mir ziemlich gruslig in die Augen starrt.

Das gefällt Collin nicht. Und das gefällt auch Tory nicht. Aber gerade das gefällt mir.

Endlose Sekunden stehen wir uns schweigend gegenüber, bis ich mich endlich durchdringe, etwas zu sagen. »Schon gut«, murmle ich, aber er lässt mich trotzdem nicht los. Er sieht mich an, als steht er vor einer atemberaubenden Schönheit. Er sieht mich an, wie er eigentlich Tory ansieht.

Sie ist es letztlich, die uns voneinander trennt. »Sascha, lass uns fahren. It's cold«, jammert sie und will dabei wie ein kleines hilfloses Mädchen wirken, das ihren starken Retter braucht. Ihr wütender Blick allerdings wirkt alles andere als süß. Sascha nickt beiläufig, bleibt aber stehen. Irgendwie schräg. Ich lege den Kopf schief und versuche langsam, ihm meine Hand zu entziehen. Hat er noch vor, sich irgendwann in Bewegung zu setzen? Er offenbar nicht, aber sein Mund.

»Tut mir leid, Becci.« Seine Stimme ist ganz heiser, als habe er seit langem nicht gesprochen. Mir kommt es auch vor wie eine Ewigkeit. Ich verziehe meine Oberlippe. Ich mag es nicht, dass er mich Becci nennt. Für ihn heiße ich immer noch Rebecca. Zumindest seit er nichts mehr von unserer früheren Freundschaft hält. Erst jetzt schaffe ich es, ihm meine Finger zu entziehen. Ich sehe meine Hand von allen Seiten an. Sie fühlt sich schon ganz taub an.

»Du kannst...«, beginnt Sascha und ist im nächsten Moment wieder still. Nur, um kurz darauf wieder nach Luft zu schnappen und neu anzusetzen: »Soll ich dich mitnehmen?« Collin und ich ziehen gleichzeitig die Augenbrauen hoch und sehen ihn ungläubig an. »Ich meine... ich halte doch sowieso bei euch, wegen Tory, also...« Er scheint die richtigen Worte einfach nicht zu finden.

»In deinem Monsterwagen?«, frage ich nicht sehr begeistert und er lacht nervös. Dabei war das gar nicht als Witz gedacht. Ich schaue Collin hilfesuchend an, aber er verschränkt nur die Arme vor der Brust und wartet meine Antwort ab. Dann sehe ich wieder zu Sascha und nicke. Allemal besser, als mit dem Bus zu fahren. Selbst, wenn ich mir ein Auto mit Tory teilen muss. Während sich auf Saschas Gesicht ein schwaches Grinsen ausbreitet, sieht Collin mich kopfschüttelnd an. Aber das ist mir jetzt egal. Auch wenn er mich in diesem Moment dafür hasst, dass ich meine eigenen Prinzipien über den Haufen werfe und mit dem Sascha, dem ich seit Wochen egal bin, mitfahre. Aber ich will einfach nur heim. Und da ist es mir sogar egal, dass Tory mich mit dem bösesten Blick, den sie im Repertoire hat, ansieht. Das hilft ihr jetzt allerdings auch nicht viel. Ich werde nicht mit ihr reden, sie nicht ansehen, ich will einfach nur heim.

ExtraordinaryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt