Liebe ist so ein falsches Wort

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Als ich meine Schultasche um die Schulter werfe und nach draußen zum Bus gehen will, versperrt Tory mir den Weg. Nicht, um mich aufzuhalten. Sie braucht einfach nur übertrieben lange, um in ihre Ballerinas zu schlüpfen. Was auch daran liegt, dass sie sich zuerst gar nicht entscheiden kann, welches Paar davon zu ihrem roten, viel zu süßen Sommerkleid passt. Als sie sich endlich für die weißen mit Spitze entschieden hat, ist sie immer noch nicht bereit, einen Schritt zur Seite zu machen. Die Wahl der Jacke ist mindestens genauso schwierig. Am liebsten hätte ich mich an ihr vorbeigeschoben und wäre einfach losgegangen, aber Mama sieht es nicht gern, wenn ich ohne Tory zum Bus gehe. Ich soll mich um sie kümmern, sagt sie. Sie hat ja keine Ahnung, wie sehr ich mich um sie kümmere. Nach einer Weile des Überlegens sieht sie mich mit ausdrucksloser Mine an. »Sascha holt mich heute«, sagt sie und ich zucke kurz zusammen, als ich ihre Stimme höre. Normalerweise redet sie nicht mit mir. Ich bin mir nicht sicher, ob sie auch jetzt eher mit sich selbst redet.

»Ok«, sage ich vollkommen emotionslos und hoffe, das Gespräch ist damit vorbei. Ich will nicht mit ihr reden. Und ich werde es auch nicht, das habe ich schon lange aufgegeben.

»Du kannst ohne mich zum Bus gehen«, ergänzt sie. Ihr amerikanischer Dialekt ist nicht zu überhören. Schon wie sie das Wort ›Bus‹ ausspricht. Ich rolle mit den Augen. Im Gegensatz zur restlichen Schule finde ich das alles andere als cool. Wortlos nicke ich, bevor ich mich an ihr vorbei zur Tür schiebe. Soll sie doch machen, was sie will. Ich bin nicht darauf angewiesen, dass sie mir zur Bushaltestelle folgt. Und ob Sascha mich mitnimmt, oder nicht, ist mir auch relativ egal. Aber eben nur relativ. Schon als ich die Tür aufmache, zieht sein knallrotes Auto meine Aufmerksamkeit auf sich. Musik dröhnt laut durch die geschlossenen Türen und lässt mich aufstöhnen. Ich kenne Sascha seit dem Kindergarten. Damals ist er frisch in unsere Wohnsiedlung gezogen und wir haben oft miteinander gespielt - so lange, bis er zu einem der ›Coolen‹ geworden ist und ich plötzlich unwichtig wurde. Und das hat sich nicht geändert, als Tory aufgetaucht ist. Nein, ganz im Gegenteil. Er hat nur noch Augen für sie. Genauso wie die meisten Jungs an unserer Schule, sogar die Lehrer oder der Busfahrer. Unschlüssig bleibe ich an der Tür stehen und weiß einen Moment nicht, was ich machen soll. Es muss ziemlich dämlich aussehen, wie ich regungslos an der Haustür stehe und Sascha beobachte, der ungeduldig auf die Uhr sieht. Seit Tory da ist, redet er kaum noch ein Wort mit mir. Zuvor waren da immerhin noch wenige Nachrichten. Solche wie »Nimmst du mir die Hausaufgaben mit? Ich bin krank.« »Was müssen wir auf morgen lernen?« oder »Stimmt das, dass ihr eine Austauschschülerin aufnehmt?« Aber seit Tory hier ist, ist er nicht mehr ›krank‹ und braucht keine Hausaufgaben mit. Es ist unverkennbar, dass er nur wegen ihr jeden Tag zur Schule geht. Um sie zu beobachten, über sie zu schwärmen, in ihrer Nähe zu sein.

Tory ist wirklich hübsch. Dagegen kann ich nicht einmal etwas sagen. Ihr braunes gewelltes Haar, das ihr weit den Rücken hinunterreicht und diese ebenso braunen Augen, aus denen man keinen einzigen Gedanken lesen kann. So geheimnisvoll und gleichzeitig so offen. Sie ist eines dieser Mädchen, das von allen Typen angehimmelt wird. Egal ob jünger, älter oder viel viel älter als sie. Es ist keine Überraschung, dass auch Lehrer sie sexy finden. Die engen Tops, die ihre Brüste mehr als deutlich zur Geltung bringen, die perfekte Figur, an der einfach alles gut aussieht und ihre Art, mit der sie alles und jeden bezaubert - manchmal sogar mich.

Tory öffnet die Tür hinter mir und ich fahre erschrocken herum. »Bye«, ruft sie meiner Mutter zu, die sofort herzlich kichert, fasziniert von ihrer Sprache - obwohl mittlerweile fast jeder so redet.

Sascha kurbelt das Fenster auf. »Hey Tory«, ruft er ihr zu, als sieht sie ihn sonst nicht. Er dreht die Musik endlich leiser. Tory hüpft an mir vorbei zum Auto. So süß sie nur kann, weil sie genau weiß, dass Sascha dann sabbernd in seinem Auto sitzt und sie beobachtet. »Hüpf rein, Süße, sonst kommen wir noch zu spät«, lacht er und bemerkt mich gar nicht, wie ich langsam hinter ihr hergehe. Ich frage mich gar nicht erst, warum er mir nicht auch anbietet, mitzufahren. Er legt seinen Arm um die Kopfstütze des Beifahrersitzes und startet den Motor, sobald Tory eingestiegen ist. Ohne mich eines Blickes zu würdigen - weder er noch sie - fährt er los. Gut, er winkt mir mit zwei Fingern kurz zu, tritt dann allerdings auf das Gaspedal und lässt mich stehen. Seufzend stapfe ich alleine los zur Haltestelle. Seit Sascha seinen Führerschein hat, bekomme ich ihn noch seltener zu Gesicht. Außer uns wohnen in der näheren Umgebung nur Kinder, die Jahre jünger sind als ich. Solche, die mich ehrfürchtig anblicken und sich nicht trauen, etwas zu mir zu sagen. Was auch daran liegen kann, dass ich übertrieben wütend dreinblicke. Ich kann gar nicht sagen, wieso ich so wütend bin. Ob es an Tory oder an Sascha liegt, oder an der Tatsache, dass der Bus schon wieder viel zu spät kommt. Und Tory bequemt sich gerade mit Sascha auf einem beheizten Beifahrersitz zur Schule. Ich merke einmal mehr, wie sehr ich meine aktuelle Lebenslage hasse.

Als der Bus kommt, ist der Fahrer sofort enttäuscht, als er mich sieht. Also nicht wegen mir, sondern weil er Tory eben nicht sieht.

»Kommt sie heute nicht?«, fragt er, als ich einsteige und ich vermeide es, meine Oberlippe angewidert nach oben zu ziehen. Aber dass der Fahrer bestimmt kurz vor der Rente ist, macht es mir schwer, nicht angeekelt zu sein. Jeder liebt Tory. Sogar der Busfahrer.

»Nicht mit dem Bus«, antworte ich ihm schließlich und lasse mich auf einen der vordersten Sitze fallen. Ich sehe ihm an, dass er gern noch warten würde, weil er hofft, dass sie doch noch kommt. Auch er kann seinen Blick nicht von ihr lassen. Von ihrem perfekten Körper, ihren Brüsten, ihrem Arsch. Aber er macht sich zu viele Hoffnungen und das weiß er. Sie wird nicht mehr auftauchen. Er fährt endlich los. Obw:ohl er unnormal langsam ist und ich mir denken kann, dass er noch immer darauf wartet, dass sie auftaucht, lasse ich mich nicht länger ärgern. Ich schiebe mir Kopfhörer in die Ohren. Der Platz neben mir bleibt frei, nicht zuletzt, weil ich meine Schultasche darauf gestellt habe. Ich brauche niemanden, der mich vollquatscht oder mir viel zu nah kommt. Ich ignoriere jeden, der einsteigt und konzentriere mich auf die Musik. ›American Idiot‹ von Green Day läuft in Dauerschleife. Deshalb bemerke ich erst gar nicht, als jemand meine Tasche vom Stuhl nimmt und sich neben mich fallen lässt.

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