Kapitel 2

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Warum ich Tiere, besonders Hunde, mochte? Weil sie zu bedingungsloser und unwiderruflicher Liebe fähig waren. Sie kannten keine Boshaftigkeit, Hinterlistigkeit oder Groll. Wenn Sie einen Menschen liebten, dann nicht, weil es die fütternde Hand war, was Viele glaubten, sondern einfach so. Für das, was wir waren – eine elende, nichtsnutzige, zerstörerische Plage  dieser Erde. Irgendwann verstand ich, dass es keine Liebe war, die ich für die Tiere empfand. Es war Mitleid.

Warum ich Lana liebte? Aus demselben Grund. Sie war der einzige Mensch auf diesem dahinvegetierenden Planeten, der genauso fehlerfrei war wie ein Hund. Und wenn es auch unter anderem Mitleid war, was ich für Lana empfand, so sollte ich schon bald lernen, dass ich ein vollkommen falsches Bild von ihr hatte.

Wir saßen bereits im Flugzeug, als Lana wieder ihr Buch auspackte und darin zu lesen begann. Ich starrte wieder aus dem Fenster auf die vorbeiziehenden, grauen Wolken und fragte mich, ab welchem Zeitpunkt meines Lebens aus mir ein depressives, lustloses Wrack geworden ist. Früher war ich ein glückliches Mädchen, hatte viele Freunde und ging sorgenlos und unbeschwert durchs Leben. Ich hätte mich selbst nicht als wunderschön bezeichnet, aber mit meinen hellleuchtenden grauen Augen, den langen hellen Haaren und dem symmetrischen Gesicht sah ich schon Hübsch aus. Wann haben meine Augen aufgehört zu leuchten und sind zu grau- grünen Linsen geworden, die mir jeden Tag vom Spiegel entgegenblickten? Ich fühlte eine Leere in mir, die mit nichts gefüllt werden konnte. Eine tiefe Traurigkeit, deren Ursprung ich zwar nicht kannte und dennoch schien es mir, als hätte ich etwas sehr Wichtiges vergessen. Schon sehr bald sollte ich erfahren, was ich vergessen hatte. Als es zu diesem Moment kam, wünschte ich mir, ich hätte mein altes trostloses Leben wieder. Hier waren wir alle wenigstens in Sicherheit.

Aber zurück zum Anfang, wann hatte sich meine Stimmung so abgrundtief verändert? Ich wusste noch, dass es von einem auf den anderen Tag passiert ist. Wann war das?

Als ich diese Frage in meinen Gedanken stellte, breitete sich ein Bild vor meinem inneren Auge aus. Ich sah mich selbst in der deutschen Eifel, in dem alten Dorf, wo ich mich bestens auskannte. Ich lief dort in den Wald hinein, zu den Tropfsteinhöhlen. Es war eine schöne Erinnerung. Jemand wartete dort auf mich. Oder auch nicht? Ich habe es vergessen. Ich wusste nur noch, dass ich an meinem dreizehnten Geburtstag zum letzten Mal dorthin lief und als ich zurückkam, war alles grau, schwer, kaputt. Natürlich! Das war der Tag an dem sich alles veränderte! Mein rosa Kleidchen, welches ich damals von meiner Oma zum Geburtstag  bekommen hatte war schmutzig und zerrissen. War ich hingefallen? Ich wollte es unbedingt Jemandem zeigen, aber wem? Ich konnte mich ums Verrecken nicht erinnern. Egal. Es war nun mal wie es war. Die Gedanken lösten sich wieder auf und flossen mit den Wolken dahin. Ich hatte keine Lust mehr über die Vergangenheit nachzudenken. Überhaupt sollte ich mich nicht so anstellen, andere Menschen hatten viel gravierendere Probleme. Nur weil ich unergründlich emotional tot war, hieß es noch lange nicht, dass es jemanden interessierte. Also habe ich Keinem davon erzählt. Nicht einmal Lana. Obwohl sie selbst bemerkte, dass mit mir Etwas nicht stimmte. Für ihr Alter war sie ein sehr kluges und aufmerksames Kind.   

Retzia - Der Blutige PfadWo Geschichten leben. Entdecke jetzt