Kapitel 1

323 18 21
                                    

Ich sah aus dem Fenster meines kleinen Schlafzimmers auf die nasse Straße, die an unserem Haus vorbeiführte. Einige Fußgänger klappten ihre Regenschirme wieder auf. Super... Und ich dachte, der Regen hätte aufgehört. Typisch London. Wir mussten ja auch unbedingt, ohne einen triftigen Grund, in die regnerischste Stadt der Welt ziehen.

„Es wird dir dort gefallen, die Leute sind nett und dein Vater möchte sich für sein neues Buch inspirieren lassen", haben die gesagt. Das war doch kein Grund Deutschland zu verlassen!

Ich hasste dieses Wetter, diese Stadt und diese netten Leute. Hauptsächlich aber das Wetter. Wenn auch nur eine Wolke die Sonne verdeckte, bekam ich schon schlechte Laune. Wahrscheinlich wäre ich nirgends völlig zufrieden. Von mir aus bräuchte es so etwas wie Nacht, Regen oder Schnee auf der Welt gar nicht zu geben. Mittlerweile regnete es schon seit drei Tagen durchgehend und mich verließ so langsam die Kraft. Jeder Schritt kostete mich meine ganzen Energieersparnisse und jeder Gedanke verschlang immer mehr meiner Motivation, überhaupt aus dem Zimmer rauszugehen. Schon seit Längerem ist mir aufgefallen, dass meine körperliche Kraft und geistige Einsatzbereitschaft vollständig vom Sonnenschein abhing. Manche beruhigte das Geräusch der aufschlagenden Wassertropfen auf dem Asphalt und ich fand es eben nervig.

Ich rappelte mich wieder auf, den angewiderten Blick von dem Fenster abzuwenden und sah in meinen Kleiderschrank. Wahllos pickte ich Kleidungsstücke raus, die für die Reise nach Deutschland einigermaßen geeignet waren. Für ganze drei Monate durfte ich mit meiner dreizehnjährigen Schwester Lana zu meiner Großmutter in die Eifel fliegen. Dort würde ich auch meinen achtzehnten Geburtstag erleben. Nicht, dass es mich interessieren würde, wie und wo ich meine Geburtstage verbringe, aber zumindest bestand dort die Chance auf etwas Sonne. Meine Mutter hatte erst kürzlich eine neue Arbeitsstelle gefunden, so dass sie nicht mitkommen konnte und mein Vater wollte sie nicht alleine lassen. Erst sträubten sie sich, uns beide für eine so lange Zeit, allein weg fliegen zulassen, zum Schluss konnten sie ihrem Mädchen den Wunsch doch nicht abschlagen. Nein nicht mir. Meine Eltern vermittelten mir nie das Gefühl, sie wären besorgt um mich. Es war Lana, die deren Liebe komplett für sich einnahm. Sie war ideal, perfekt, makellos, absolut liebenswert, konnte keiner Fliege was zu Leide tun. Alle vergötterten sie - genau wie ich es auch tat. Meine Schwester... für Sie täte ich alles.. ausnahmslos.

"Soll ich dir beim Koffer Packen helfen?" Lana steckte Ihren Kopf durch die Tür zu meinem Zimmer und sah mich erwartungsvoll an.

„Ich bin schon fertig und unser Flug geht in drei Stunden, du solltest dich beeilen Em's!" Ich hieß Emelie, aber Lana nannte mich immer Em's, was irgendwie süß und gleichzeitig vertraut klang.

„Ja ich weiß. Komm rein, du kannst mir helfen diesen Haufen zu verstauen." Ich zeigte auf den riesigen Klamottenberg auf meinem Bett. 

 „Oh mein Gott! Hast du sie nicht mehr alle?! Du hast ja noch überhaupt Nichts gemacht! In zwanzig Minuten fahren wir schon los!" 

 „Deshalb sollst du mir ja helfen", sagte ich im völlig gelassenen Ton. Ohne ein weiteres Wort fing sie an meine Sachen zu sortieren und in den Koffer einzupacken. Schon nach fünf Minuten war sie fertig und schob ihn zur Tür. Ich schnappte noch mein Handy und ging ihr langsam hinterher. 

 Auf dem Weg zum Flughafen unterhielten sich unsere Eltern über irgendwelche finanziellen Angelegenheiten,die mich null interessierten. Ich sah meine Schwester an, die neben mir saß. Sie las in ihrem Buch, welches sehr spannend zu sein schien. Über Drachen und furchtlose Ritter, die Diese zähmten - hatte sie mir zumindest mal gesagt. Ich konnte nie nachvollziehen, wie man sich für eine Fantasy Geschichte begeistern konnte - schließlich war alles erfunden - doch Lana war immer davon überzeugt, dass es irgendwo im Universum solche Wesen gab. Naja, sie war ja auch noch ein Kind und ich wollte keine Spielverderberin sein, also stimmte ich ihr einfach zu. Sie blickte von Ihrem Buch auf und schaute mich erwartungsvoll an. 

 „Tut mir Leid dass ich dir heute Morgen so viel Stress gemacht habe", brachte ich über meine Lippen. Sogar meine Mutter drehte sich um und sah mich erschrocken an. Ich habe mich so selten bei jemandem entschuldigt wie es vorkam, dass ein Blitz zweimal auf ein und dieselbe Stelle einschlug. 

 „Ist schon gut, wir haben es ja doch noch rechtzeitig geschafft." Sie lächelte. Ich liebte das Lächeln meiner Schwester. Es war wie die Sonne für mich und gab mir Kraft, obwohl es regnete. 

Am Flughafen angekommen verabschiedeten wir uns von unseren Eltern und gingen zum Check-In Schalter. Die Rothaarige Frau hinter dem Pult studierte ganz genau unsere Ausweise. 

„Emelie und Lana Winter?", fragte sie, ohne aufzublicken. 

 „Ja!", antwortete Lana sofort. Ich sparte mir das Ja, weil mir die Frau recht unfreundlich vorkam. 

 „Bitte Gepäck auf das Laufband stellen." Sie zeigte mit dem langen, rot lackierten Fingernagel auf die Abladefläche und gab uns unsere Pässe zurück. Sobald unsere Sachen durch waren, packte ich Lana an der Hand und marschierte zu unserem Gate. 

 „Hätten wir nicht wenigstens Danke sagen sollen oder Tschüss?", fragte meine Schwester bedrückt. 

 „Nein. Hat die alte Hexe nicht verdient." Meine Antwort kam so emotionslos, als wäre es eine normale Feststellung. 

 „Wie kannst du denn so sein? Ist dir wirklich egal, was die Leute von dir denken?" 

 „Ja, du kennst doch meine Einstellung." 

 „Ja, das tue ich: ich hasse alle Menschen und nur Tiere sind es Wert geliebt zu werden." Lana versuchte, mich zu imitieren, was in etwa so klang wie ein Roboter. Es hörte sich so komisch an, dass sogar ich anfing zu lachen. 

 „Ganz genau!" - Ich mochte Tiere eben.

 "Aber eine Person gibt es auf dieser Welt, der mein Herz verfallen ist." Ein Lächeln lag in meiner Stimme. 

 „Bitte was?! Wer ist es denn?", ganz gespannt sah sie mich an und erwartete wahrscheinlich, einen Jungennamen zuhören. 

 „Du", sagte ich nur, packte sie fester an der Hand und navigierte  zu den Sitzplätzen. Lana sah  auf den Boden, während sie versuchte die Röte zu verbergen, die sich langsam in ihr Gesicht stahl.

Retzia - Der Blutige PfadWo Geschichten leben. Entdecke jetzt