Kapitel 2

58 8 2
                                    

„Also, wird es nun eine Liebesgeschichte, oder nicht?"

Anscheinend habe ich wirklich ihr Interesse geweckt. Seit unserem Gespräch sind zwei Tage vergangen. Sie hat sogar an einigen Therapien teilgenommen, da sie festgestellt hat, dass Kunst ihr liegt. Auch Maya ist wieder fröhlicher, weil sie sich langsam mit ihr unterhalten kann. Wenn dieses kurze Gespräch letztes Mal solche Auswirkungen hatte, dann frage ich mich, wie sie reagiert, wenn sie alles gehört hat. „Wollen Sie nun weiter erzählen oder muss ich nach Hause?"

„Willst du denn nach Hause?"

Überrascht sieht sie mich an. Dann schüttelt sie langsam den Kopf. „Warum nicht?"

„Ist doch egal! Erzählen Sie nun weiter?"

Und da ist es wieder, dieses sture Mädchen, was sich gegen alle Versuche, etwas aus ihr heraus zu bekommen, verschließt. Ich darf meine Chancen jetzt nicht leichtfertig über Bord werfen. „In Ordnung! Wo war ich stehen geblieben?"

„Ist das Ihr ernst? Sie haben aufgehört, als Aurelie in ihre Klasse kam."

„Du hast dir ihren Namen gemerkt?"

„Na ja, so schwer ist er nun auch nicht."

Ich muss leicht lächeln. Wieder verschränkt sie die Arme und sieht wie ein kleines bockiges Kind zur Seite. Ich nehme alles zurück, was ich über die Gemeinsamkeiten zu Aurelie gesagt habe. Aurelie war immer zuvorkommend und freundlich. Natürlich konnte sie auch zickig sein, immerhin war sie ein Mädchen, aber sie hat nie so gebockt. „Ok! Nachdem Aurelie zu uns in die Klasse kam, hat sie sich schnell mit den beliebten Mitschülern angefreundet und hat mich nicht mehr beachtet."

„Ja, das haben Sie bereits erwähnt."

„Seit diesem ersten Aufeinandertreffen war ein Jahr vergangen..."

***

Es war wieder einer dieser tristen Tage! Mein Spiegelbild konnte ich schon nicht mehr sehen, denn es langweilte mich jeden Tag mehr. Ständig die gleiche Frisur und die gleichen Klamotten. Die Brille rutschte mir auch andauernd von der Nase, sodass ich aussah, wie ein zu jung geratener Professor. Oder wie meine Mitschüler gesagt hätten: ein Streber. Aber das war ich nicht, meine Noten konnten es bestätigen. Meine Freunde hätten mich wahrscheinlich so gemocht, wie ich war. Doch da lag das Problem. Ich hatte keine Freunde, außer einen. Und da war das nächste Problem. Mein einziger Freund war für 3 Monate in Tschechien zum Schüleraustausch. Mit ihm hatte ich die ewig langen Schultage überstanden. Doch nun schleppte ich mich allein von Stunde zu Stunde. Den Lehrern war ich egal. Ich lag mit meinen Noten im Mittelfeld. Nicht so gut, dass es atemberaubend gewesen wäre, und auch nicht so schlecht, dass sie mich hätten durch ziehen oder unterstützen mussten. Ich war einfach nur anwesend und machte keinen Ärger. Aber egal, wie oft ich es auch versuchte, ich konnte einfach nicht aufhören, an Aurelie zu denken. Sie saß in jedem Fach schräg vor mir. Jedes Mal wenn sie sich umdrehte oder zur Seite sah, konnte ich in ihr wunderschönes Gesicht sehen. Ständig hat sie gelächelt. Ich habe mich dann immer gefragt, wie sie den ganzen Tag so fröhlich sein konnte. Natürlich gab es immer Personen, die einfach eine fröhliche Natur hatten, aber selbst die wurden irgendwann müde. Aber nicht Aurelie. Ihr Lächeln verebbte nie. Das dachte ich zumindest. Ich hangelte mich von Unterricht zu Unterricht. Und passend zum nebeligen Wetter waren die Stunden genauso trübe. In Latein wurde wieder irgendein langweiliger Philosoph oder römischer Kaiser übersetzt. In Mathe konnte ich die Gleichungen mit ihren Buchstaben schon nicht mehr sehen. Wer ist überhaupt auf diese Idee gekommen, Buchstaben in einer Rechnung einzubauen? In Geografie wurden irgendwelche Gesteine behandelt. Und dann kam dazu noch eine Doppelstunde Deutsch, in der wir von Goethe das Gedicht Prometheus analysieren und interpretieren mussten. Wie ich diese Interpretationen hasste. Nicht weil ich es nicht konnte, sondern weil meine Interpretation immer die falsche war. Prometheus allerdings war eine mythologische Figur, da gab es nicht viel zu interpretieren, aber unseren begabten Schüler, wobei ich das Wort begabt noch bezweifele, hatten sich wunderbar vorbereitet. Sie hatten im Internet nachgesehen und genau, das erzählt, was die Lehrerin hören wollte. Erinnert ihr euch an Frau Faerber? Sie schien am Anfang sehr nett. Was soll ich sagen? Nach dem ersten Halbjahr war meine Euphorie schneller verflogen, als ich gucken konnte. Sie war weder gemein, nicht schikanierte sie jemanden. Aber kennt ihr das, wenn ihr eine Person auf dem ersten Blick mögt und dann feststellt, dass Sie Schleimer und Klassenlieblinge bevorzugt? Genauso war es. Sie ignorierte mich einfach. Was ich sagte, war falsch oder nicht gut formuliert oder einfach nicht genügend. Also beschloss ich, mich gar nicht mehr zu melden. Das war auch eine schlechte Idee, denn da bekam ich schlechte Noten in der Mitarbeit. Wie man es macht, ist es falsch. Aber ich muss es nur noch dieses Jahr ertragen, dann werden unsere Klassen eh neu zusammen gewürfelt. Die letzten beiden Stunden hatten wir Sport. Es war nicht unbedingt mein Lieblingsfach, aber hier konnte ich wenigsten ein wenig abschalten. Momentan spielten wir Volleyball. Abgesehen davon, dass ich als letztes ins Team gewählt wurde, war es befreiend für mich. Ich traf vielleicht nicht jeden Ball oder wehrte alle Angriffe ab, aber ganz schlecht war ich auch nicht. Nach dem Sportunterricht kamen die Basketball-Spieler zum Training. Einer unserer Lehrer trainierte sie in seiner Freizeit. Ich hatte nie etwas für dieses Spiel übrig. Einmal war ich zu klein, dann fehlte es mir an Kondition und zu guter Letzt mangelte es mir an Körpermasse. Wenn man mich sah, dachte man, ich würde bei jeder kleinsten Berührung zerbrechen. Das war auch der Grund, warum ich am liebsten weite Kleidung trug. So konnte man nicht meinen drahtigen Körperbau sehen. Kurz bevor ich die Sporthalle verließ, fiel mir auf, dass ich meine Sportjacke in der Halle vergessen hatte. Also ging ich zurück, dabei vermied ich es durch die Umkleideräume zu gehen, wo sich die gut trainierten Basketball-Spieler gerade umzogen. Als ich gerade die Tür öffnen wollte, sah ich jemanden in der Halle. Ich konnte darin laute Musik hören und sah jemanden tanzen. Vorsichtig öffnete ich die Tür und ging hinein. Meine Jacke lag auf einer Bank direkt neben der Tür. Ich hätte sie mir einfach nur nehmen brauchen und wieder verschwinden können. Wahrscheinlich wäre es die bessere Variante gewesen. Aber ich konnte nicht gehen. Ich war fasziniert von ihren Bewegungen. Von ihrem Handy aus spielte die laute Musik und sie tanzte zu ihren Klängen. Es war etwas Klassisches, aber wenn es nichts Rockiges war, brauchte man mich nicht nach Musik zu fragen. Bei jeder Bewegung hielt sie ihre Augen geschlossen. Sie bekam mich also gar nicht mit, wie ich da stand und ihr begeistert zu sah. Dann machte sie plötzlich eine Drehung und lehnte sich nach hinten. Dabei zog sich ihr Top ein wenig nach oben und gab den Blick auf ihren Bauch frei. Ich hätte eigentlich froh darüber sein sollen, was ich sah, doch das war ich nicht. Es war ein flacher Bauch, den sich jedes Mädchen unseres Alters gewünscht hätte. Doch was auf ihrem Bauch zu sehen war, war alles andere als schön. Auf ihrem Bauch zeichneten sich Narben ab. Viele kleine silbrige und auch noch rosa Narben, die noch nicht richtig verheilt waren. Einige überschnitten sich sogar, weil ein Großteil ihres Bauches bereits bedeckt war. Ich war so darauf fixiert, dass ich nicht merkte, wie die Tür zuknallte. Sie erschrak sich genauso sehr wie ich. Schnell blieb die stehen und zog ihr Oberteil wieder über ihren Bauch. Dann rannte sie zu ihrem Handy und stellte die Musik ab. „Was tust du hier?"

AurelieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt