Und plötzlich ist alles anders

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Es sollte der schönste Tag ihres Lebens werden. Doch irgendetwas läuft schief. Tief in ihrem Inneren weiß sie, dass sie jetzt gerne an einem ganz anderen Ort wäre, mit einer anderen Person. Ihr Herz gehört längst nicht mehr dem Mann im Anzug, der neben ihr steht und sie verträumt anlächelt. Sie schließt die Augen und ihre Gedanken fliegen zurück zu diesem einen Abend, in der einen Bar und dem einen Lied, mit dem alles begann.

Die Plätze an der Bar waren leer. Über die Lautsprecher klangen die einsamen Klänge einer Gitarre und eines Kontrabasses. Es schien noch zu früh zu sein, um sich zu betrinken. Ich betrachtete mein Cocktailglas. Es war bereits mein zweites und auch dieses war schon beinahe leer. Mit einem Quietschen ließ ich meinen Finger über den Rand gleiten. Dabei warf ich einen Blick auf die Uhr. 18:30 - Ich hatte das Haus vor einer Stunde verlassen. Ob er sich schon wieder beruhigt hatte? Ich konnte noch genau seine wutentbrannte Stimme hören. Die Vorwürfe, die er mir gemacht hatte, würde ich ihm nicht so schnell wieder verzeihen können. Ich hatte gelogen, ja und? Ich hatte gelogen, weil ich wusste, wie er reagieren würde, wenn ich ihm erzählen würde, dass ich mich mit Konrad traf. Aber ich hatte ihn nicht betrogen. Ich hatte ihn nie betrogen, aber er glaubte mir nicht. Natürlich nicht, warum auch? Er hatte mir nie vertraut. 

Ich war zu sehr in Gedanken verloren, um zu bemerken, dass sich jemand neben mich setzte. "Schlimmer Tag?" Ich drehte ruckartig den Kopf und blickte in die schönsten braunen Augen, die ich jemals gesehen hatte. Sie reflektierten das schwache Dämmerlicht und glänzten in tausend verschiedenen Farben. "Habe ich dich erschreckt?" Es folgte ein freundliches Lachen. Ich riss meinen Blick los und lächelte zurück. "Ich will lieber nicht darüber reden." Die Fremde nickte langsam, dann wandte sie sich ab. Sie hatte dunkelblonde, schulterlange Locken und ein Pony, welches ihr fransig ins Gesicht hing. "Nein, so war das nicht gemeint. Ich bin Ruby." Die andere lächelte verschmitzt. "Hazel." Sie reichte mir die Hand. Ich schüttelte sie. Sie war warm und weich. "Hazel? Wie die Haselnuss?" Hazel biss sich auf die Lippe und nickte. "Ja genau, wie die Haselnuss. Ich weiß auch nicht, was sich meine Eltern dabei dachten." "Ach komm, so schlimm ist es nicht. Ehrlich gesagt mag ich den Namen, auch wenn ich gegen Haselnüsse ziemlich allergisch bin." 

Wir verfielen in ein lockeres Gespräch. Sie war ungefähr so alt wie ich und wir verstanden uns gut. Wir beide hatten noch keine Ahnung, auf welche Weise diese Begegnung unser Leben verändern würde. 

Ich genoss es Hazel zuzuhören. Sie war witzig und hatte die positive Ausstrahlung, die ich jetzt gebrauchen konnte. Ich lachte viel und ich trank viel. Eric meldete sich nicht. Nachdem ich das fünfte Mal  nachschaute, ob er angerufen hatte, machte ich mein Handy aus. Irgendwann verließen wir die Bar, weil es zu voll und zu laut wurde. Es war seltsam, aber ich wollte mich plötzlich viel lieber unterhalten, als mich irgendwo selbst zu bemitleiden. Hazel wohnte nur wenige Blocks entfernt, also entschieden wie uns noch gemeinsam dorthin zu laufen. Dabei erfuhr ich, dass sie Germanistik studierte. Sie erzählte mir Verschiedenes über sich selbst, aber das Wichtigste: Sie stellte keine Fragen. Also redeten wir über die unwichtigen Dinge und es machte mich glücklich. 

Bei ihr zuhause angekommen, trank ich noch mehr. Sie wohnte in einer WG, aber ihre Mitbewohnerin war nicht da, also machten wir es uns im kleinen Wohnzimmer bequem. Sie hatte sich gerade erst von ihrem Freund getrennt und war dann recht überstürzt dort eingezogen, deswegen standen noch überall Umzugskartons herum. Ich betrachtete ein paar der Bilder, die bereits an der Wand hingen, während sie in die Küche ging, um mir ein Glas Wasser zu holen. Viele der Bilder zeigten sie mit einer etwas älteren Frau, die ihr ziemlich ähnlich sah und einem blonden Teenager. Als sie zurückkam und sah, was ich mir anschaute, umspielte ein wunderschönes Lächeln ihre Lippen. "Das ist meine Familie. Sie wohnen in England, deswegen kann ich sie nicht so oft sehen." Sie reichte mir das Glas und setzte sich dann zu mir. Dabei streifte ihr Arm für einen Augenblick meinen und ich bekam eine Gänsehaut. Ich drehte den Kopf von dem Foto an der Wand zu ihr und erkannte, dass sie mich beobachtete. Mein Herzschlag wurde schneller. Als sich unsere Blicke trafen, schien die Welt für einen Moment still zu stehen. 

Und dann -  dann hörte ich auf nachzudenken. Ich legte meine Hand auf ihre weiche Wange und zog sie näher an mich heran, bis ich ihren heißen Atem auf meiner Stirn spüren konnte und der Geruch ihres leichten Parfums in meine Nase stieg. Sie schien kurz zu zögern. Für den Bruchteil einer Sekunde legte sich ihre Stirn in Falten, als würde sie nachdenken. Dann - plötzlich - trafen sich unsere Lippen. 

Es war wie das Aufwachen aus einer Trance. Hatte ich vorher nicht gewusst, was ich tat, so wurde es mir jetzt klar. Spätestens ab diesem Augenblick konnte ich es nicht mehr auf den Alkohol schieben. Ich war verletzt, müde, betrunken und ich wollte Eric wehtun. Doch dieser Kuss - er war unglaublich und wunderschön. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich einem Menschen so nah gefühlt. Ich spürte ihre Lippen an meinem Hals, meinen Schultern, meinem Bauch, sie waren überall. Meine Hände erkundeten ihren Körper, berührten sie sanft, zogen sie näher, immer näher. Ich schlang meinen Arm um ihren Nacken und schaute sie an. Für einige Momente verharrten wir so, schweigend und unsicher. "Hazel, das hier", murmelte ich, "das hier ist..." Ich schluckte. "Ich stelle keine Fragen", flüsterte sie. Selbst ihre Stimme war wunderschön. Sie war so sinnlich und ein wenig heiser. Ich schaute ihr tief in die Augen. "Versprochen?" Sie nickte. "Versprochen."

Eine Stunde später drehte ich den Schlüssel zur Tür meiner eigenen Wohnung um. Es war fast Mitternacht und ich fühlte mich schrecklich. Mein Schädel brummte, aber vor allem plagte mich die Schuld. Ich hatte Eric betrogen, mit einer Frau, die ich gerade erst kennengelernt hatte. Ich hatte mit einer FRAU geschlafen. Aber das Schlimmste war die Tatsache, dass ich jede Sekunde davon genossen hatte. Es hatte sich gut angefühlt, jede ihrer Berührungen war wunderschön gewesen. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so vollständig gefühlt. 

Die Tür ging auf und mir kam der Schein von Kerzen entgegen. Viele Kerzen überall auf dem Boden verteilt, auf den Möbeln. Ich starrte sie an. Dann trat ich ein. Mein Freund kam mir schnellen Schrittes entgegen. "Ruby, ich habe versucht dich zu erreichen." Das konnte nicht wahr sein. Ich schluckte und versuchte meine verwirrten Gedanken zu sortieren. "Ja, mein Handy war aus. Was - was soll das hier?" Er lächelte. Ich fühlte mich schrecklich. "Ich wollte mich bei dir entschuldigen, ich habe mich verhalten wie ein Idiot. Ich vertraue dir, du würdest mich niemals betrügen." Das durfte jetzt nicht passieren. Er kam näher, nahm mir den Mantel ab und legte ihn auf die Couch. "Ich möchte dir beweisen, dass ich dich liebe und dass ich dich nie verletzen wollte. Dafür will ich dir eine Frage stellen." Direkt vor mir kniete er sich auf die Dielenbretter des Parketts. Bitte, bitte tu' das nicht, dachte ich noch. Steh auf, lass es einfach. "Ich liebe dich mehr als alles andere in der Welt, Ruby. Willst du meine Frau werden?" Mir wurde schlecht und ich musste mich konzentrieren, damit mich nicht übergab. Wie sollte ich bloß aus dieser Situation wieder heraus kommen? Er grinste. Ich schluckte einmal, zweimal, doch der Knoten in meinem Hals wurde immer größer. 

"Hör zu, Eric. Du bist ein toller Kerl und ich liebe dich, aber das ist jetzt echt ein schlechter Zeitpunkt. Ich bin betunken und müde. Das hier ist eine wichtige Entscheidung, die ich jetzt nicht überstürzt treffen möchte." 

Er nickte, doch sein Gesichtsausdruck war enttäuscht. "Natürlich, lass dir Zeit." Er nahm meine Hand und stellte sich wieder hin. "Ich kann nicht hier bleiben, ich muss morgen früh arbeiten, aber ich ruf dich an, ja?" Ich nickte. Er schien eine Verabschiedung zu erwarten, doch ich machte keine Anstalten, also gab er mir einen Kuss auf den Kopf. "Du riechst gut", meinte er zum Abschied, "Ein neues Parfum?" Ich hatte kein neues Parfum, aber ich wusste genau, wessen Duft mich umgab. Trotzdem nickte ich hastig und er lächelte. "Gefällt mir." Dann fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. 

Mir blieben nur wenige Sekunden, um ins Bad zu rennen, bevor ich mich in die Kloschüssel übergab. Was hatte ich bloß getan?

Hazel EyesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt