Für Immer

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Das Zimmer sah noch fast genauso aus, wie vor einem Jahr. Die Polizei hatte es drei Tage nach Melanies verschwinden durchsucht und dabei jeden Winkel auf den Kopf gestellt - natürlich ohne irgendwas zu finden. Linda hatte daraufhin alles wieder so zurückgeräumt, wie sie es in Erinnerung hatte. Sie wusste zwar, dass es ihrer Schwester nie wichtig war, wie ihr Zimmer aussah und doch fühlte sie sich verantwortlich dafür, alles in Ordnung zu halten, bis sie zurückkäme.


Linda stand in der Mitte des Raums und drehte sich langsam um die eigene Achse. Rote Tücher hingen vor dem Fenster und unter der Decke, sodass das Zimmer wie eine warme Höhle wirkte. Über dem Bett hing eine große Leinwand an der Wand, die komplett schwarz bemalt war. Der Schreibtisch stand voller angefangener, aber nicht fertiggestellter Zeichnungen und Bilder. Die Pinsel waren ordentlich mit den Borsten nach oben in einem alten Marmeladenglas gesammelt. Das war wahrscheinlich das einzige, was Melanie stets aufgeräumt hatte. Sie hatte sich oft viele Stunden in ihrem Zimmer eingeschlossen, laut schräge Musik gehört und gemalt. Langsam trat Linda an den Tisch herüber. Sie nahm eine Zeichnung in die Hand und blickte traurig darauf hinab. Mit Bleistift hatte Melanie die Konturen eines Manga-Mädchens angedeutet. Ihr schwarzes Haar schwang wild um ihren Kopf und sie trug eine große Brille. Ihre Arme waren in die Luft gestreckt um einen riesigen, goldenen Blitz aufzufangen. Das Mädchen tauchte auf vielen von Melanies Zeichnungen auf - Linda hatte die Zeichnungen, als Melanie noch da war, nie weiter beachtet, doch nun fragte sie sich wieder und wieder, ob sie sich dort selbst darstellte, wie sie gegen übermächtige Feinde kämpfte.


„So ein Quatsch!"


Linda wirbelte erschrocken herum - sie zuckte zusammen, als sie das Mädchen erkannte, das sie angesprochen hatte. Dort, direkt vor ihrem frisch gemachten Bett, stand Melanie. Ihre Arme hatte sie vor der Brust verschränkt, ihren Kopf etwas genervt zur Seite gelegt. Ihre dunklen Augen durchbohrten Linda, sodass sie eine Gänsehaut bekam.


„Deine pseudo-intellektuellen Psychoanalysen kannst du dir sonst wo hin stecken.", sagte sie und ihre Stimme klang genau wie früher.


„Aber ist es nicht ein Hinweis?", hakte Linda nach. „Eine Erklärung, warum du dich so verändert hast? Ein Grund für dein Verschwinden?"


„Du bist verzweifelt.", stellte Melanie angewidert fest. „Du baust dir deine angeblichen Hinweise und Theorien zusammen, wo nichts ist." Sie kam langsam auf sie zu und deutete dabei mit dem Finger auf Lindas bleiches Gesicht. „Das ist erbärmlich! Glaubst du, du findest mich, wenn du nur lange genug auf meine Bilder starrst?"


Linda schluckte. Sie schaute wieder hinab auf das Bild. Es war unfertig. Wie all ihre Zeichnungen.


„Wo soll ich denn sonst suchen?", fragte sie mit schwacher Stimme. „Wo soll ich anfangen? Gib mir einen Ansatzpunkt! Irgendeinen!"


Sie blickte wieder auf - doch Melanie war verschwunden. Ohne es zu bemerken, fiel sie auf die Knie, drehte sich auf die Seite und starrte mit leeren Augen an die Wand. Sie rollte sich zur Embryonalstellung zusammen.


Die kitschige Klingelmelodie der Haustür holte Linda zurück in die Realität. Es war fast siebzehn Uhr am einunddreißigsten Dezember - die Silvesternacht stand bevor und Linda hatte noch nicht einmal begonnen, sich fertig zu machen. Wer klingelte zu dieser Zeit an der Tür?


Linda öffnete Melanies Zimmertür und lugte in den Flur. Von hier aus konnte sie die offene Treppe hinab blicken, bis auf die Haustür. Sie sah noch wie ihr Vater die Tür öffnete, da erblickte sie auch schon den ungebetenen Gast. Plötzlich änderte sich die ganze Erscheinung von Lindas Vater. Sein krummer Rücken wurde gerade und steif, seine Augen blitzten aufmerksam, sein Mund verzog sich zu einem künstlichen Lachen.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Aug 04, 2016 ⏰

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