Kapitel 12

1K 49 2
                                    

Eine Minute lang herrscht .Vollkommene Stille.

Dann beginnt das Dröhnen in meinen Ohren. Mein Herz verdoppelt seinen Rhythmus und das Blut in meinen Adern pulsiert unter meinen Fingerspitzen.

Was hat sie da gerade gesagt?

Obwohl sich mein Nacken vollkommen steif anfühlt, drehe ich mich zu Annabeth um. Sie sieht keineswegs überrascht oder gar geschockt aus, sie wirkt so, als hätte man ihr lediglich gesagt, was es heute Abend zu Essen gibt.
Grau-grüne Augen starren für einen Moment in entsetzte Blaue, dann wenden sie sich ab. Ihre Lippen zu einem schmalen Strich verzogen, stelle ich fest, dass Evelyn tatsächlich Recht hat. Wir sehen uns ähnlich. Der selbe wilde Audruck in den Augen. Die gleiche Haarfarbe. Die selbe kleine Nase.
Sie hat Recht. Wir sind Schwestern.

Es ist eine schwere Tatsache, die ich da verdauen muss. Aber da fällt mir etwas ein.
"Wieso weiß ich nichts von ihr?" frage ich, unterdrücke den Drang unruhig auf meinem Stuhl hin und her zu rutschen, kralle stattdessen meine Finger in die Lehne des Stuhls.

Mit einem scheinbar zufriedenen Lächeln meint Evelyn: "Jeanine hat versucht sie zu töten. Aber Annabeth ist geflohen und lebt seitdem bei uns. Die Ken denken, sie ist tot, so wie der Rest deiner Familie, aber sie haben Unrecht. Annabeth lebt."

Für einen Moment spüre ich einen Anflug von Hoffnung in mir. "Soll das heißen..." frage ich vorsichtig nach, "soll das heißen, meine Eltern sind auch hier?"

Zum ersten Mal erkenne ich so etwas wie Zuneigung in Evelyns Blick.

"Es tut mir leid, Claire, aber eure Eltern sind nicht hier. Jeanine hat sie umgebracht" - "Und dafür wird sie bezahlen. Sie und ihre ganze Fraktion von Verrätern"

Langsam wende ich mich zurück zu Annabeth. "Wie bitte?" flüsterte ich fast schon.

"Die Ken müssen für das, was sie getan haben, bezahlen"

"Das sind gute Menschen! Sie haben nichts Falsches getan! Vielleicht hat Jeanine Fehler gemacht, aber deswegen kann man doch nicht gleich die ganze Fraktion zur Verantwortung ziehen! Bei den Ferox gibt es genauso Leute, die wissen, wie sie ihre Leute manipulieren!"

"Ich habe auch nie gesagt, dass die Ferox auch nur ansatzweise besser sind als die Ken!"

Annabeths Augen scheinen Funken zu sprühen und tief in ihnen erkenne ich den langen Zorn, der sich über die Jahre aufgebaut hat.
Ich kann sie verstehen. Jeanine hat ihr alles genommen. Zuerst ihre Familie, dann ihre Fraktion und zum Schluss ihre Zukunft. Sie wird für immer eine Fraktionslose sein, ohne zu wissen, wer sie wirklich ist. Ob sie auch eine Unbestimmte ist?
Schnell verdränge ich den Gedanken. Egal, was Jeanine ihr angetan hat, es ist kein Grund, eine Fraktion dafür zu beschuldigen.

"Keine Fraktion ist unschuldig!" kontere ich, worauf hin sie nur schnaubt und sich abwendet.
"Genau deswegen muss das Fraktionssystem abgeschafft werden"

Nun bin ich endgültig geschockt. "Das Fraktionssystem mag zwar seine Fehle haben, aber es ist nicht böse! Es hat uns all die Jahre Frieden gebracht!"

Annabeth ist dabei sich zu mir rüber zu beugen, ihre Augen scheinen nun noch mehr zu glühen. "Frieden? Was für einen Frieden? Einen Frieden, in dem man nicht mal seine Meinung frei äußern darf? In dem Menschen einen vorschreiben, wie man zu sein hat? Sag mir Claire, was ist das für ein Frieden ?"
"Was ist es für ein Frieden, wenn man das Fraktionssystem abschafft und ihr die Stadt kontrolliert?" meine ich fast schon zischend und liefere mir ein intensives Blickduell mit ihr.
Mit einem abfälligen Schnauben wendet sich ab, lehnt sich wieder in den Stuhl zurück, ehe sie schwungvoll aufsteht. "Ich würde jetzt gerne gehen Evelyn"

Gnädig nickt Angesprochene zur Tür und meine Schwester läuft zum Ausgang des Raums. Als ihre Hand schon an der Klinke liegt, hält sie noch einmal inne.
Ohne sich umzudrehen meint sie:

"Jeanine ist eine Mörderin. Ich weiß das und unsere Eltern wussten es auch. Sie sind für dieses Wissen gestorben. Und ich werde nicht zulassen, dass ihr Opfer umsonst war"

Mit diesen Worten verlässt sie den Raum und lässt eine sprachlose Stille zurück.

Da ich nicht weiß, was ich nun tun soll, schweige ich.

Ich schweige. Wie immer.

Escape - das zweite Buch der  „Unique" Reihe  Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt