Kapitel 11

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Claire

Evelyns Augen erinnern mich an die einer Raubkatze. Fest und unnachgiebig starren sie ihr Opfer an, die Krallen in Form von Fingernägeln klopfen beständig auf den Holztisch vor ihr.

Ich möchte dir gerne jemanden vorstellen

Lange Zeit schweige ich sie nur an, wieder einmal ist es nur die Uhr im Raum, welche die lähmende Stille überspielt. Doch gerade als ich den Mund öffne um etwas zu sagen, klopft es an der Tür. Ohne den Blick von mir zu nehmen sagt Evelyn: "Herein"
Der knarzende Mechanismus wird aufgedrückt, dann schiebt sich ein schmaler, graziöser Körper durch den entstandenen Spalt. Meine Neugierde siegt und ich wende den Kopf in Richtung Tür, beinah hysterisch schnappe ich leise nach Luft.

Im Zimmer befindet sich eine junge, muskulöse Frau, die Arme sind hinter hinter ihrem Rücken verschränkt und ihr Oberkörper reckt sich stolz nach oben. Aufrecht wie eine Soldatin steht sie vor Evelyns Stuhl und ihre grau-grünen Augen sehen geradeaus zu Tobias Mutter.
"Evelyn" fängt sie an zu reden, ihre Stimme hat einen harten, aber dennoch weiblichen Ton und die Worte durchdringen klar und deutlich wie Dolche den fast leeren Raum. "Ich muss mit dir reden. Es geht um Jeanine" Die Haare der blonden Frau sind kurzgeschnitten und reichen ihr gerade mal bis zu den Ohren.

Ich brauche eine ganze Weile, ehe ich in der Lage bin, den Blick von ihr abzuwenden und wieder Evelyn anzusehen. Diese nickt langsam, dann blickt sie zu mir und ein merkwürdiges Lächeln legt sich auf ihre fahle Haut. "Ist gut, Annabeth. Setz dich doch bitte, ich würde dir gerne jemanden vorstellen"
Annabeth scheint kurz zu zögern, dann lässt sie sich auf dem Platz zu Evelyns Rechten nieder. Obwohl zwischen und ganze zwei Plätze liegen, fühle ich mich auf eine seltsame Art und Weise erdrückt und zusammengepresst, mein Bedürfniss, das Zimmer fluchtartig zu verlassen, wächst.

Doch noch bevor ich die Möglichkeit habe, diesem Bedürfniss nach zu eifern, verhindert Evelyn wieder einmal meine Flucht.
"Annabeth, ich bin sicher du kennst Claire Matthews bereits"
Mir fällt, dass sie meinem Namen eine komische Betonung hinzufügt, eine spöttische, wissende.
Angesprochene, die blonde Frau, die anscheinendend Annabeth heißt, würdigt mich nur eines einzigen, abweisenden Blickes, dann richtet sie ihre Aufmerksamkeit wieder ganz auf ihre Anführerin. Ich nutze die kleine Gelegenheit und mustere die Fremde genauer. Wie bereits erwähnt befinden sich ihre Haare in einer glatten Kurzhaarfrisur und die grau-grünen Augen sind von schwarzem Eyliner leicht umrandet. Sie hat dichte, volle Wimpern, eine gerade Nase und schmale blassrosa Lippen, welche zu einem harten Strich verzogen sind. Auf irgendeine Weise kommt mir dieses Gesicht und seine gesamte Ausstrahlung seltsam bekannt vor, fast als hätte man ein Wort auf der Zunge liegen, findet aber einfach nicht den richtigen Begriff um sich auszudrücken.
"Natürlich kenne ich sie" meint die blonde Frau, ihre Hände in ihrem Schoß gefaltet und mich nach wie vor ignorierend. Ich kann aus ihrer Stimme eine gewisse Distanziertheit, eine Abneigung gegen mich erkennen und ich würde meinen Stolz darauf verwetten, dass diese Abneigung insbesondere mir gilt. Evelyns gekünsteltes Lächeln wird noch eine Spur breitet, jedoch schafft es es immer noch nicht, ihre Augen zu erreichen, denn diese wandern glanzlos von der Fremden zu mir.

"...Es ist wirklich erstaunlich, wie ähnlich ihr euch seht"

Zum ersten Mal seit ich ihr begegnet bin, treffen sich die Blicke der Fraktionslosen und mir für mehr als nur einer Sekunde. Wir erwidern intensiv den Augenkontakt des Anderen und seltsamerweise fühle ich so etwas wie eine Vertrautheit diesem Mädchen gegenüber. "Worauf möchtest du hinaus, Evelyn?" fragt sie scharf nach, behält allerdings dennoch diese kühle Art von Höflichkeit bei. Scheinbar amüsiert greift die Vorsitzende der Fraktionslosen zu ihrem Glas und hebt es an ihren Mund. "Das Claire es nicht sofort erkennt war mir klar, aber ich dachte, dass wenigstens du, Annabeth, schneller verstehst, was ich euch eigentlich versuche mit zu teilen" Während sie trinkt, bewegt sich die fahle Haut an ihrem Hals auf und ab und die schlanken Fingern umklammern den Griff des Weinglases.
"Und was wäre das?" frage ich scharf, so langsam werde ich wirklich genervt. Evelyn sieht mich mit einem undefinierbaren Blick an, dann holt sie tief Luft. Sie deutet zuerst auf Annabeth, dann auf mich.

"Annabeth ist deine Schwester, Claire"

Escape - das zweite Buch der  „Unique" Reihe  Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt