Teil 3 der Leseprobe

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Papa sah genauso peinlich berührt aus.

Von Scham geplagt starrte ich auf meine Füße. Wie schrecklich es war, dass meinem Vater seine eigene Tochter peinlich war. Vielleicht würde ich Papa irgendwann dafür danken, dass er mich hierher geschleppt hatte, so komisch und falsch es sich gerade im Moment auch anfühlte, hier zu sein.

„In meinem Büro habe ich ein paar Formulare, die Sie beide bitte noch unterschreiben müssten, dann würde ich Sie entlassen", sie lächelte Papa an, „und dir zeige ich dann anschließend das Internat. Ist das in Ordnung?", fragte sie, aber es hörte sich wie eine rein höfliche Frage an, auf die sie keine Antwort erwartete.

Stumm liefen wir ihr in ihr Büro hinterher. Auf dem Weg dorthin sah ich mich um. Das Internat war sehr hell und geschmackvoll eingerichtet, es hatte viele große Fenster und wirkte auch sonst überraschend einladend. Im Büro der Schulleiterin setzten wir unsere Unterschriften auf ein paar Papiere und Papa und die Rektorin redeten noch ein wenig über irgendwelche Sachen, wobei ich abschaltete und lieber das Büro von Frau Schattauer betrachtete, das allerdings nichts Spannendes aufweisen konnte.

Als wir wieder den hellen Gang hinunterliefen, begegneten wir vielen Schülern. Die Pause schien wohl zu Ende sein. Ich senkte wieder den Blick und vermied sämtliche Blickkontakte. Es war so ungewohnt, dass mich die Menschen wieder beachteten. Zu Hause war ich irgendwann zu einem Geist geworden, den niemand mehr ansah, weil ich eh auf nichts mehr reagiert und nur noch vor mich hinvegetiert hatte.

Gewöhn dich schon mal an die Blicke, Schätzchen, du bist jetzt die neue Attraktion des Internats!, kommentierte meine innere Stimme fröhlich.

„So, dann hol du mal deinen Koffer, Jasmin, wir treffen uns in der Eingangshalle in ein paar Minuten, ja?", fragte die Rektorin lächelnd und ich nickte automatisch. „Dann können Sie sich auch noch ganz in Ruhe von Ihrer Tochter verabschieden."

Schweigend folgte ich Papa über den Asphalt des nun ausgestorbenen Hofes zu seinem Auto. Er hievte meinen Koffer aus dem Kofferraum und ließ ihn zwischen uns auf den Boden plumpsen. Sein Blick suchte den meinen, doch ich sah mit gerunzelter Stirn und Tränen in den Augen beiseite.

„Vielleicht sollte ich dir den noch schnell reintragen..."

„Das schaffe ich schon allein", unterbrach ich ihn schroff. Meine Wut und Enttäuschung kochten gerade wieder auf. Wieso fiel es ihm so einfach, mich irgendwo im Nirgendwo in einem anderen Land abzusetzen?

„Minnie, sei nicht sauer auf mich." Es war das erste Mal seit langer, langer Zeit, dass er Mamas Spitznamen für mich benutzte. Als könnte er meinen Gedanken lesen, sagte er: „Ich will nur das Beste für dich. Wenn ich mir nicht zu hundert Prozent sicher wäre, dass das hier das Beste für dich ist, würde ich dich hier niemals allein zurücklassen. Mann, am liebsten würde ich dich wieder einpacken, doch wir müssen einfach irgendwie vorwärts kommen, Schatz." Er sah mich bittend an. „Gib dir Mühe, okay? Nimm das als die Chance, nach der du ein halbes Jahr gesucht hast."

Ich sah ihn an und wusste nicht, was ich antworten sollte.

„Ich versuch's", sagte ich schließlich schlicht.

Ich wollte ihm so viel mehr sagen, aber ich bekam kein Wort heraus.

Ihm schien es wohl genauso zu gehen. Papa öffnete den Mund, schloss ihn wieder, holte Luft, aber schien wohl nicht die richtigen Worte zu finden. Wortlos nahm er mich also einfach in den Arm und drückte mich fest an sich. Ich ließ mich in seiner Umarmung fallen und schloss die Augen. Manchmal war eine Umarmung aussagekräftiger als tausend Worte.

„Es tut mir so leid, Papa", flüsterte ich.

„Ich weiß, Minnie, ich weiß. Ich bin nicht sauer auf dich", murmelte er in meine Haare.

Ich löste mich schniefend von ihm und sagte: „Jetzt fahr endlich, ich halt das nicht länger aus" und lächelte ein wenig.

Papa fuhr mir ein letztes Mal über die Haare und gab mir einen Kuss auf die Stirn.

„Ich hab dich lieb, Papa." Es war nicht mehr als ein Flüstern.

„Ich dich noch mehr. Pass auf dich auf, meine Kleine. Ich will dich nicht auch noch verlieren, jetzt, wo ich dich gerade erst wiederhabe."

Mit diesen Worten stieg er ins Auto und fuhr langsam davon.

Ich wusste nicht, wie lange ich noch so dastand. Die Tränen liefen mir unaufhörlich über die Wangen. Seine Worte hallten wie ein Echo in meinem Kopf wider.

Plötzlich spürte ich weitere Tropfen. Sie trafen mich am ganzen Körper. Unwillkürlich erzitterte ich und sah nach oben. Es fing an, wie aus Kübeln zu gießen, aber ich rührte mich keinen Zentimeter. Ich nahm überhaupt nichts mehr wahr. Stattdessen schloss ich einfach nur die Augen, das Gesicht immer noch Richtung Himmel gerichtet.

Auf einmal spürte ich eine Hand auf meinem Unterarm und hörte eine Stimme, die mich aus meiner Starre riss. Mit einem Ruck drehte ich mich der Person zu und sah in zwei dunkelbraune Augen, die mich förmlich aus meinen klatschnassen Socken hoben.

„Hast du mich gehört?", fragte er und musterte besorgt mein Gesicht.

„Was?", fragte ich lahm und wischte mir automatisch mit der Hand übers Gesicht, weil ich ihn durch den Schleier meiner Tränen und des Regenwassers gar nicht genau sehen konnte.

„Ich habe dich gefragt, was du hier draußen machst", wiederholte er. „Wir sollten reingehen. Ist das dein Koffer?"

Ich nickte stumm, immer noch nicht in der Lage, mich zu bewegen. Der dunkelhaarige Junge nahm meinen Koffer in die Hand und drehte sich wieder zu mir um. Als er in mein Gesicht sah und meinen glasigen Blick richtig deutete, griff er nach meiner Hand und zog mich mit hastigen Schritten zur Eingangstür. Ich stolperte hinter ihm her.

In der Eingangshalle setzte er meinen Koffer ab und schüttelte sich das Wasser aus seinen kurzen dunklen Haaren. Sie hingen ihm ein wenig in die Stirn, aber man konnte seine aufgestylte Frisur noch ansatzweise erkennen. Er sah echt gut aus.

Himmel, Jassy.

Das ist das erste Mal seit sechs Monaten, dass du so etwas denkst, bemerkte meine innere Stimme. Sie klang eindeutig erfreut. Meine Gedanken waren wohl das Zeichen, dass ich langsam und unsicher zurück ins Leben kehrte.

Riptide [LESEPROBE]Where stories live. Discover now