E I G H T

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Ich habe die Nacht darauf lange wach gelegen. Habe mich ununterbrochen gefragt, was er wusste. Was er gelesen hat und was vor seinen neugierigen Augen noch verschont geblieben ist.

Seine Worte sind mir im Gedächtnis haften geblieben. Ich solle kämpfen, das würde ich vielleicht, wenn ich wüsste, wo meine Reise hingehen soll. Ich will auch nicht daran denken, dass ich nur dieses eine Leben habe, dass es kein danach geben wird. Ich will nicht daran glauben, dass es das einfach gewesen sein soll. Ich will, dass nach meinem Ableben aus diesem Dasein noch eine zweite Chance auf mich wartet, die ich nutzen darf, um zu beweisen, dass ich es besser kann. Viel besser.

Ich will nicht, dass er recht hat. Und deshalb war das das Erste, was ich in meinem Tagebuch verewigte, was ich wegschloss, vor der Welt und vor mir selbst.

Und zwei Tage später denke ich nicht mehr daran zurück. Ich habe meinen eigenen Wunsch von einer zweiten Chance vergessen.

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Ich höre, wie hinter mir die Türe zum Hörsaal aufgestoßen wird. Aber ich sehe nicht auf, und drehe mich schon gar nicht erst um. Mir ist es egal, wer 105 Minuten von Vertragsrecht versäumt hat und dreißig Minuten vor Vorlesungsende auf die dämliche Idee kommt doch noch aufzutauchen. Ich weiß nur, dass ich die / der Glückliche hätte sein können, die / der sich die drei Stunden hätte sparen können, wenn die- / derjenige mal schön ferngeblieben wäre.

Kopfschüttelnd wechsle ich in eine bequemere Sitzposition, strecke meine Beine aus, und bette meinen Kopf nun mit dem linken Ohr auf meine ineinander verschränkten Arme, die auf meinem Pult aufliegen. Ich schließe die Augen und schwelge tagträumerisch schon im wohlverdienten Feierabend, mit einem Joint, Zigaretten und einer Flasche eisgekühlter Spirituosen bewaffnet. Eine himmlische Vorstellung, oder?

„Ah, Mr. Wilson, wie schön, dass Sie uns in diesem fortgeschrittenen Stadium unserer heutigen Sitzung noch mit Ihrer Anwesenheit beehren."

Ich seufze und hebe stöhnend den Kopf. Aus und vorbei die Ruhe. Hobbs war der letzte, an den ich gedacht habe. Aber leider muss ich mir eingestehen, hätte ich ihn mal in Erwägung ziehen sollen. Mindestens jedes zweite Mal erscheint Hobbs überhaupt nicht zu Vertragsrecht – in anderen Veranstaltungen ist es um seine Motivation ähnlich bestellt, oder schlimmer noch -, und in den anderen Malen kommt er zu spät. Und das nicht nur fünf oder zehn Minuten, sondern so wie heute, mindestens eine geschlagene Stunde.

Jura interessiert ihn einen Scheißdreck. Aber seine Eltern, ähnlich wie meine, haben ihm nie eine Alternative geboten. Entweder Jura oder gar nichts. Und wenn er sich für gar nichts entschieden hätte, hätten sie ihn verstoßen. Nicht, dass es jetzt anders wäre, jetzt badet er schließlich in der Scheiße, und aus der kommt er nicht mehr ungeschoren heraus.

Das Gefühl ist mir alles andere als fremd.

„Ich wusste, dass Sie sich freuen würden, mich zu sehen", antwortet Hobbs grinsend. Wie immer markiert er den dicken Macker und hat eine große Schnauze. Er zeigt jedem, wie egal ihm das alles hier ist. Trotzdem schreibt er gute Noten. Wie er das macht, ist mir ein Rätsel. Er hat aber irgendwann einmal beiläufig in meiner Gegenwart die Existenz von 'Ghostwritern' fallen lassen.

Für mich wäre das keine Option. Meine Zensuren sind grottenschlecht. Aber ich gebe mir keine Mühe. Ich setze mich in die Prüfungen, schreibe die Formalien aufs Blatt, unterschreibe, stehe auf und gehe. Aber nichts ist bisher passiert. Meine Prüfungen wurden nie, auch nicht nur ein einziges Mal gewertet. Kein einziges, gottverdammtes Mal. Es ist, als hätte ich seit dem Wandel, den ich durchzogen habe, keine einzige, gottverdammte Prüfung mehr abgelegt.

„Außerordentlich, Mr. Wilson. Setzen", wurde Hobbs herrisch angewiesen. „Die nächsten Fragen dürfen Sie mir auch direkt beantworten, wenn Sie es sich auf ihrem Platz gemütlich gemacht haben."

Blackshattered ▪ H.S. #everlight2k20Where stories live. Discover now