Ein ungelesener Brief

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V,

Wenn immer ich bei dir bin, ist alles so leicht - so leicht und so einfach und so schön, dass ich das Gefühl hab, so könnte es für immer weitergehen. So leicht, weil die Last meiner Gedanken für kurze Zeit von mir ablässt, weil die tausend Stimmen in meinem Kopf schweigen, verstummen, mich nicht mehr interessieren. So einfach, weil du keine Fragen stellst, einfach akzeptierst, wie ich bin; nicht sagst, dass du die Dinge, die ich tue, nicht nachvollziehen kannst. Das kann ich selbst nicht. Ich brauche niemanden, der mir weismacht, wie zusammenhanglos, unverständlich, irrational so ziemlich jedes meiner unzähligen Prinzipien ist. Und wenn ich mich dazu durchringe und mir die Mühe mache, Worte für eine Zwangshandlung zu finden, weil es mich erleichtert, wenn sich diese Handlungen überhaupt noch in Worte packen lassen, dann möchte ich nicht, dass man nachfragt Wieso, Weshalb, Warum, dann möchte ich einfach nur Okay, In Ordnung, Alles klar hören.

Viel zu viele Menschen stellen Fragen und ahnen nicht einmal, wie sie mich damit in die Enge treiben. Nie wird einem seine eigene Unzurechenbarkeit bewusster gemacht, als wenn für eine immer wieder selbst durchgeführte Handlung kein Grund genannt werden kann. Fragen verlangen immer nach Antworten, und wenn man keine Antwort geben kann, unterbricht man den vom Fragensteller implizierten Fluss des Gesprächs.

Eine Tragödie.

Aber du fragst nicht. Du hast noch nie gefragt.

Andere mögen das als störend erachten, als mangelndes Interesse deinerseits, aber für mich ist es eine Erlösung. Ich muss nichts, was ich tue, rechtfertigen. Und wenn ich jeden Sonntag meine Handtücher waschen muss, dann ist das eben so. Damit füge ich ja niemandem Schaden zu.

Schlussendlich - so schön. So schön, weil du mir das Gefühl gibst, dass es manchmal okay ist, traurig und deprimiert zu sein, aber mich dennoch immer wieder daran erinnerst, dass es nichts bringt. Und jemand, der meine Krankheit auf eine so faszinierende Weise erträgt und verbessert, keine Vorwürfe macht, ist vielleicht genau das, was ich gebraucht habe.

Aber dann, wenn ich wieder weg muss, und wieder weg bin, scheint es, als hätten die dunklen Monster in Form von schlimmen Gedanken auf mich gewartet, nur darauf gewartet, endlich wieder ihre Klauen nach mir ausstrecken zu können, mich einlullen zu können in finstere Träume, Zweifel, Ängste. So, dass ich mich kaum traue, wegzugehen, und wenn ich dann einmal weg bin, fürchte ich mich, wieder zu dir zurückzukommen.

Manchmal habe ich das Gefühl, eine riesige Mauer stünde zwischen uns, wir lebten in zwei vollkommen verschiedenen Welten - ich in der einen, die von Trauer, Angst und meiner beschissenen Krankheit bestimmt wird; und wenn es nicht die Krankheit ist, dann die Angst davor, sie könnte zurückkommen und du in der anderen, in der es das Wort Traurigkeit gar nicht gibt.

Sollte ich ein Vorbild benennen, wärst es wohl du, so absurd das auch klingen mag, so sehr ich manches von dem, was du tust, verabscheue. Aber als jemand, dem es noch nie leichtgefallen ist, unbeschwert und lachend durchs Leben zu gehen, traue ich mich zu sagen, dass du einer der wenigen Menschen bist, die das Leben so verstanden haben, wie es gemeint ist - und vielleicht bin ich deshalb so gern bei dir, vielleicht bin ich dir deshalb so verfallen, vielleicht wäre ich deshalb dazu bereit, alles dafür zu geben, dass du weiterhin glücklich sein kannst. Denn so lange du glücklich bist, besteht für mich überhaupt die Chance, es ebenfalls zu werden.

L.

Ruhe (Ideensammlung)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt