6 ~ Der Auftrag

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"Liv, es ist endlich soweit. Sie haben mir einen Auftrag gegeben. Eine Aufgabe. Etwas, wofür es sich zu kämpfen lohnt.
Er ist mächtig stolz auf mich. Unser Anführer."

Damals verstand ich nicht, wovon meine große Schwester da überhaupt sprach. Ich hatte alles, was ich von der Sekte, von meinem jetzigen Leben, mitbekam, nur durch einen Schleier wahrgenommen.

Ich hatte kleine Vorstellungen davon, was dort vor sich ging. Was sie taten. Was sie dachten. Warum sie Aufträge vergaben. Wofür sie kämpften.
Aber in welchem Ausmaß es wirklich das Leben eins selbst beeinflusste, darüber war ich mir nicht im Klaren.

Ich war viel zu sehr in meiner eigenen Welt versunken. Um genau zu sein, auf den zwei Seiten meiner eigenen Welt. Wahrscheinlich würde man nicht denken, dass man als siebenjähriges, kleines Mädchen schon in einer so verkorksten und komplexen Denkweise lebt und das auch völlig berechtigt.

Diese Erkenntnis erschien mir selbst erst vor einigen Monaten.
Früher war mein Denken nur von einem einzigen Durcheinander belagert. So würde ich es heute nennen. Lose Gedanken, die keinen Zusammenhang mit etwas Anderem hatten und nur so von meinem inneren Wind getrieben und immer wieder im Kreis gejagt wurden.

Doch als diese unsichtbare Wand langsam anfing, sich wie von selbst zu errichten und den durcheinander geratenenen Gedankensträngen endlich eine spezielle Aufteilung zu verschaffen, änderte sich etwas schlagartig. Ich fing an, meine ganze Kindheit in einem völlig anderen Licht zu sehen.

Einerseits war da die Freude, die Lust auf Neues, Neugier, Aufregung und all die anderen positiven Gefühle, die man als Kind für gewöhnlich haben sollte. Wenn ich ehrlich war, mochte ich diese Phasen. Die Phasen, in denen ich mich einer Seite meiner eigenen kleinen Welt vollständig widmete.

Es war eine schöne Zeit. Doch sie war nun vorbei.

Ich schritt langsam und Schritt für Schritt über den knarrenden Fußboden des langen und hochdeckigen Flurs.

Mein linke Hand strich dabei sachte und vorsichtig über die linke Wand. Es war ein angenehmes Gefühl in meinen Fingerkuppen. Der Stoff der geschlossenen Mauer. Das Material, welches sich nie verändern und immer es selbst bleiben wird. So glatt und geschmeidig.

16:58 Uhr.

In genau zwei Minuten erwartete mich mein, unser Meister.

Dann werde ich erfahren, welche Rolle ich in unserem gesamten Vorhaben spielen werde. Dass sie besonders sein wird, stand außer Frage.

Ich war von nun an und dank der fehlgeschlagenen Gefühlsentnahme auch eine besondere Ocean.

Ich sah sie.

Die Tür.

Die Tür, die mich wie durch den Durchbruch der Athmosphäre jedes Mal in eine neue Welt versetzte. Das letzte Mal war ich hier, als mir alles erklärt wurde.

Warum ich lebe. Zu was ich ausgebildet werde.

"Olivia, keine Sorge. Dein Großonkel will dir nichts Schlimmes. Es ist mehr ein Geheimnis."

"Aber warum erzählst du es mir nicht einfach?"

"Mir wurde es nicht befohlen. Ich bin nicht dazu befugt. Es ist nicht meine Aufgabe. Dein zukünftiger Meister muss heute zum ersten Mal die Autoritätswirkung auf dich ausüben, damit du vorbereitet bist. Deswegen kann es nur er tun."

Die Stimme meiner Mutter schallte wieder einmal von meiner Gehirnwand. Ich konnte es nicht abstellen.

Diese Ocean-Gabe war mir immerhin geblieben. Die Erinnerungen.

~ Seventies ~ Eine Sekte, die keine Gnade kennt Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt