5 ~ Der Meister

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"Liliana, die Gefühle einer Ocean sind nicht das, was uns auszeichnet. Im Gegenteil. Sie sind das, was uns in unserer Ehre verletzen würde. Sie sind das, was uns schwächt. Deswegen müssen wir sie loswerden.
Oceans haben Verpflichtungen. Sie sind dafür verantwortlich, unsere Existenz aufrechtzuerhalten. Wozu brauchen wir dabei Emotionen, die sich nur in den Fluss unserer Aufgaben stellen und unsere individuellen Verlangen in den Vordergrund stellen?"

Ich lag einfach da. Wartend. Wartend auf die Antwort darauf, was mein Schicksal sein wird. Welches mir erteilt wird.

Ich hörte immer lauter werdende Schritte von außen. Jeder Lufthauch, den sie erzeugten, brannte sich in meinem angeknacksten Verstand ein.
Darauf folgte ein Klopfen an der Tür.

Die mahagoni-rote Holztür begann zu knarren, während die Tür sehr langsam geöffnet wurde.

Stück für Stück bot uns die Tür immer mehr von seinem anmutigen Antlitz dar.

Von meinem daliegendem und deprimiertem Ich aus betrachtete ich ihn genauer. Sein stämmiger Körper war in einem edel aussehendem, hochwertigem Anzug gekleidet. Dazu trug er eine ebenso teure Krawatte, die mit goldenen Fäden versehen war. Sie verliehen seiner einschüchternden Erscheinung nochmal einen zusätzlichen Glanz.

Ich fragte mich, wie es für einen Außenstehenden nun womöglich auszusehen vermag, wenn man diese autoritäre, nichts an sich heranlassende und edel wirkende Pesönlichkeit ansah und danach sich dem deutlichen Kontrast hingab, indem man das in Laken eingewickelte, kränkliche und niedere Bild eines vor Elend strotzenden Mädchens seinen Blick widmete.

Seine Lippen trennten sich wie in Zeitlupe voneinander.

"Liliana", hauchte er.

Es war kein verzweifeltes Hauchen. In keinster Weise. Dazu wäre nicht einmal ich in diesem Moment in der Lage gewesen. Es war einfach eine sehr leise Art und Weise, meinen Namen also Ton von sich zu geben.

"Olivia, die leisteste Variante der Stimmenauskostung, das bloße Hauchen von Worten, verleiht dir einen noch höheren Rang der Bewunderung. Es ist sehr hilfreich. Wie als würdest du deinen Gegner provozieren wollen. Aber nur in seinem Unterbewusstsein. Im Grunde versuchst du nur seine Aufmerksamkeit zu erlangen. Gehe kostbar damit um."

Unser Meister schaute mir mit dieser unglaublichen Intensität in die Augen. Sein Blick war durchdringend und jede einzelnen Faser der Athmosphäre zwischen uns durchbrechend.

"Was soll ich mit dir tun?", ließ er mit seiner tiefen Stimme erklingen.

Ich sollte nicht antworten. Das war offensichtlich.

"Nun, ich nehme an, deine ältere Schwester hat dir die sich vor kurzer Zeit ereignete Dramatik bereits schonungsvoll beigebracht. Irre ich mich bei dieser Annahme?", fragte er, sich im Klaren darüber sein, welche Antwort er erwartete. Mit einer anderen würde er sich nicht zufrieden geben.

Ich nickte nur, seinen Willen befriedigend. Zu mehr war ich nicht imstande.

"Das ist eine Schande, Liliana. Noch nie in der Geschichte der Gefühlsentnahmen ist so etwas passiert. Dass plötzlich die Verbindung abbrach und der Prozess unterbrochen wurde. Noch nie. Doch das Schlimmste ist, dass die Sekte diesen Vorgang nicht wiederholen darf. Ein Sektenschwur. Wer hätte je gedacht, dass es überhaupt dazu kommen sollte? Offensichtlich ist immer irgendwann das erste Mal.", sprach er in einem monotonen Tonfall, bis auf einmal ein schwaches Lächeln anfing, seine Lippen zu zieren.

Ein selbstgefälliges Grinsen.

Ein provokanter Gesichtszug.

~ Seventies ~ Eine Sekte, die keine Gnade kennt Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt