2 ~ Die Zeremonie

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"Bitte Mami, Mandy hat eine ganz tolle Barbie zum Geburtstag bekommen und will sie mir unbedingt zeigen. Bitte Mami, kann ich zu ihr nach Hause?"
"Ich kaufe dir eine Barbie"
"Aber ich wollte meine andere Barbie auch mitbringen, damit wir zusammen spielen können" Bei Aussprechen des Wortes "zusammen" verkrampfte sich die Frau neben mir. Ich bemerkte einen blitzartigen Riss in ihrer sonst so festen Hüller. Die kalte Fassade begann zu bröckeln und ich hatte das Gefühl, dass gleich etwas einstürzen würde. Doch sie fing sich wieder, der eiskalte und distanzierte Blick trat wieder in ihre Augen. Die meiner Mutter.
Ich hatte Angst, warum durfte ich nicht zu Mandy?

Nun wusste ich es wieder einmal besser. Unglaublich zu wissen, wie unwissend und ignorant ich damals gewesen war. Ich hatte doch keine Ahnung von der Welt. Die Szene spielte sich wieder und wieder in meinem Kopf ab, als ich mich gerade auf den roten, mit Samt verzierten Thron setzte, der an einzelnen Teilen vergoldet war. Ich rief die Erinnerung eines kleines Mädchens ab, welches ihr rosa Prinzessinnenkleid trug und über eine Wiese sprang. Ich. Diese Erinnerung war noch sehr deutlich. Ich hatte mich damals wirklich wie etwas Besonderes gefühlt. Lächerlich. Ein Kleinkind in einem rosa Glitzerkleid und sofort ist sie eine Prinzessin.
Dieser damalige Gedanke war nicht mit dem jetzigen zu vergleichen. Gerade als mein Unterkörper den weichen Stoff des Sitzes streifte, legte ich synchron meine schlanken, zierlichen Arme auf die Thronlehnen und sorgte dafür, dass ich eine anmutige und elegante Sitzposition fand.

Autorität, Eleganz, Anmut, Prestige, Ruhm, Benehmen.

"Sitz aufrecht, Olivia."

"Nimm die Hand vor den Mund, wenn du gähnst."

"Sei niemals unhöflich."

Ich richtete meinen Blick nach vorne. Ich schaute weder nach oben, noch nach links oder rechts. Das gehört sich nicht. Nur ein einziger Fehltritt, nur ein einziger Blickabschweif könnte als Unsicherheit oder als Schwäche gedeutet werden. Das durfte nicht passieren.

Ich wusste, wie der Saal aussah. Hoch, weit, von Kronleuchtern geschmückt. Die Wände waren schwarz, der Boden auch und die Decke genauso. An einzelnen Stellen zeichnete sich unser rotes Wappen ab.

Ich wusste allerdings immer noch nicht, was es darstellen sollte. Meine Mutter sagte, irgendwann werde ich es verstehen. Es sah aus wie ein Wirbel oder zwei rote Platten, die nur von einem Block aus genauso roten Fäden verbunden wurden. Die einzelnen Fasern trugen eine Kraft in sich. Eine Kraft, denjenigen, der sie anschaute, in seinen Bann zu ziehen. Doch ich schaute sie nicht an, ich wusste, wie sie aussahen.
Im nächsten Moment hörte ich Applaus. Die ganze Menge, die im Raum saß, der ich meine Aufmerkamkeit bisher nicht zugewandt hatte, stand auf und klatschte.

Am anderen Ende des großes Raumes war noch ein Thron. Er war aber viel höher, er schwebte schon fast. Dort saß er. Der, den wir alle anbeteten. Ich hatte das Glück, dass ich eine mehr oder weniger nahe familiäre Verbindung zu ihm hatte. Mein Großonkel. Begründer der Sekte, der ich heute meinen Eid schwören werde. Er war die höchste Persönlichkeit, der ich je begegnen werde. Er war die Person, zu der ich aufschaute. Den ich genauso vergötterte wie die Sekte selbst. Wenn ich fühlen könnte, wäre ich glücklich. Aber meine Gefühle hatte ich mir selbst verdrängt. Zumindest einen Teil davon. Heute wird mir der letzte Teil auch vollständig entzogen werden.

Wie er dort saß. Er war nicht sonderlich alt. 53 Jahre alt. Wir Oceans erzeugten unsere Nachkommen für gewöhnlich schon mit 18 Jahren. Die blonde Farbe aus seinen Haaren war noch nicht ganz gewichen. Er trug einen Bart und war stämmiger gebaut. Es zeichneten sich schon einzelne Falten um seine Augen ab. Aber sie passten perfekt im Kontrast zu seinem Gesicht. Aber seine Augen selbst. Blau. Gefühlskalt. Emotionslos. Seine ganze Aura war überwältigend. Noch nie habe ich bei ihm einen Moment von bröckelnder Fassade mitbekommen. Bewunderswert. Und ich bewundere ihn. Jeremy Brandon Ocean. Unseren Anführer.

Ich lies den Blick nun durch die Menge schweifen, die sich vor mir erstreckte. Ich war darauf bedacht, keine Gedanken freizulassen und meinen Blick kalt zu lassen. Das war mittlerweile sehr einfach. Ich hatte jahrelange Übung, nachdem mir an meinem 10. Geburstag erzählt wurde, dass mein Leben sich in eine andere Richtung wenden würde.
Die meisten Menschen, die hier saßen, kannte ich nicht. Sie waren eher unauffällig in der Sekte tätig. Aber dafür umso nützlicher. Einige waren nicht mal Oceans. Man konnte auch anders in die Sekte eintreten. Aber damit kannte ich mich nicht so gut aus.
In der ersten Reihe saßen meine engsten Familienmitglieder.

Meine Mutter. Melinda Felicis Ocean. 45 Jahre alt. Ihre schönen, braunen Haaren reichten ihr ordentlich gewellt bis zur Brust. Sie hatte eine hohe Stirn, hohe Wangenknochen und wunderschöne volle Lippen. Ihr grünen Augen leuchteten herrlich, selbst in dieser Dunkelheit. Sie war groß und schlank, was ich von ihr geerbt hatte. Sie war so schön.
Doch ihre Herrschsucht hat mich zu dem gemacht, was ich heute bin. Ich bin ihr insgeheim dankbar, auch wenn sie sagt, dass das selbstverständlich sei.

Neben ihr saß meine 27-jährige Schwester. Lia Miranda Ocean. Sie war blond und genauso wunderschön. Hohe Wangenknochen und große graue Augen. Es gab nicht mehr zu beschreiben. Schon ihr bloßer Anblick lässt erkennen, wovon man spricht. Sie war eine unfassbare Kämpferin. Wenn sie fiel, stand sie sofort auf. Wenn sie etwas erreichte, eine Aufgabe gut meisterte, zeigte sie keinen Stolz. Sie machte einfach weiter und schwieg darüber. Sie war bescheiden. Sie war unglaublich.

Mein Vater. Er war gestorben. Als ich 5 Jahre alt war. Ich sprach nicht darüber. Ich dachte nicht darüber nach. Ich durfte nicht schwach werden. Ich durfte es nicht.

An seinem Platz saß Louis Harris. Mein Verlobter. Normalerweise müsste ich sogar schon nächstes Jahr mein erstes Kind bekommen, aber aus Gründen, die man mir nicht offenbarte, soll es nicht so weit kommen. Ethan war einer der Mitglieder der Sekte, die keine Oceans waren. Er wollte mir nicht sagen, wie er eintrat. Es war mir gleichgültig. Wir mussten aus praktischen Gründen heiraten. Das gehörte sich so für Sektenmitglieder. Sie waren nicht auf sich alleingestellt. Zumindest meistens nicht.

Ich hörte einen lauten Gong und jeder Blick richtete sich auf Jeremy Ocean. Er erhob sich und stand da in seiner vollen Größe. Er trug einen langen schwarzen Mantel und darunter einen hellgrauen Anzug, auf dem unser Wappen aufgedruckt war.
Mein Großonkel ergriff das Wort. Sein Stimme war tief und rau.

"Sehr geehrte Oceans und Rest meines treuen Gefolges,
wie ihr wisst, haben wir uns heute versammelt, um unsere hohe Sekte um ein weiteres Amt zu erweitern. Ein weiterer Schritt, um für das einzutreten, wofür wir stehen. Ein weiterer Schritt, unseren Willen zu befriedigen und um unsere Existenz zu bewahren. Uns, das höchste Geschlecht. Uns: die Oceans. Wir sind hier, um den Kampf zu stärken.
Liliana Olivia Ocean. Mein Großnichte. Du weißt nicht, wie sehr ich es schätze, dass du zu uns trittst."

Endlich hörte ich auf, seine Hände zu mustern und schaute ihm direkt in die Augen. Selbst von dieser Distanz spürte ich die Kälte seines Blickes. Man würde als Nichtswissender nicht verstehen, wie man aus so einer Kälte Anerkennung herauslesen konnte, aber es funktionierte. Das war einer der Gaben, die ein Ocean besaß. Damals als ich zwei Jahre alt war und ich gerade lernte, Sätze zu bilden, sah ich diese auch im Blick meiner Mutter, auch wenn man von ansonsten völliger Emotionslosigkeit ausgehen würde. Diese Gabe war angeboren. Genauso wie die Gabe, sein ganzes Gedächtnis im Laufe des Lebens jederzeit vollständig ausschöpfen zu können. Man kann jeden auch nur ganz kleinen Gedanken und jede kleinste Auffälligkeit zu jeder Zeit seines Lebens abrufen.
Und nun war es soweit, diese auch endlich sinnvoll einzusetzen.

Bild: Jeremy, Melinda, Lia

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Soo Kapitel 2 ist im Kasten xD Es war diesmal länger (sogar doppelt so lang wie das Erste 😆), ich versuche, die Chaps jetzt immer so lang zu machen.
LG Liv

~ Seventies ~ Eine Sekte, die keine Gnade kennt Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt