Der letzte Sonnenaufgang

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Mae erwachte so wie am ersten Tag ihrer Ankunft in der Festung durch tänzelnde Sonnenstrahlen, die sich in ihrem Haar fingen und die Malereien und bunten Stickereien zu einem fröhlichen Leben erweckten. Es dauerte eine Weile, bis sie wieder an das Schreckliche des gestrigen Abends dachte - doch dann brach es umso heftiger über sie herein. Die seltsamen Gäste! Die schwarzen und weißen Gestalten - und dann der schreckliche... Sie krallte sich unterbewusst in die Arme, die mit blauen Flecken übersät waren. Hier hatte er sie festgehalten, während er... Nein! Sie durfte nicht daran denken, wie brutal er dabei vorgegangen war! Ihr ganzer Unterleib schmerzte und die Laken waren blutverschmiert. Mit Mühe stand sie auf - vor ihr stand erneut ein herrliches Frühstück, dampfende Getränke, Milch, Brot, Käse... alle Köstlichkeiten, nach denen sie sich noch vor ein paar Tagen gesehnt hätte - doch jetzt war es ihr nur widerwärtig, all das in seiner makellosen Appetitlichkeit zu sehen. Mit einem lauten Schrei wischte sie alles von dem kleinen Tisch hinunter, direkt auf den schweren, dichten Teppich, in dem ihre Füße fast versanken. Sie ging auf die Knie und weinte winselnd, dann presste sie ihren Kopf so fest auf ihren Schoß, dass sie gar nicht merkte, wie die Männer das Zimmer betraten. Erst, als sich kräftige Hände um ihre Oberarme schlossen und sie über den Teppich Richtung Tür zogen, wurde sie sich dessen bewusst. Doch anstatt sich zu wehren, ergab sie sich in ihr Schicksal und schloss einfach die Augen.

Am Vormittag stand Meister Boldwin vor dem Earl. Dieser saß wieder in der düsteren Halle vor dem flackernden Feuer und hatte die Augen geschlossen. Hinter ihm stand Cleggard, präsent wie immer. Er war es auch gewesen, der Boldwin vor einer Stunde von seinem Zimmer abgeholt hatte. Dabei hatte er im Plauderton über das schöne Wetter, die diesjährige Ernte und die Vorkommnisse im Land referiert, ganz so, als sei Elias Boldwin ein guter Bekannter, der sich brennend für all das interessierte. Die lodernde Wut, den Abscheu und die Verachtung in Boldwins Blick ignorierte er geflissentlich. "Der Earl erwartet Euch, Meister!", war alles, was Cleggard abschließend von sich gegeben hatte. Und so stand er jetzt in der Halle und wartete gedankenverloren und in sein Schicksal ergeben, dass Ronové sich an ihn wandte. Doch dieser ließ sich Zeit. Unverändert blieben seine Augen geschlossen, unverändert hatten sich seine feingliedrigen Hände um die Stuhllehnen geschlossen und unverändert stand Cleggard dort, ihn aus wachen Augen musternd. Der Schreiber spürte, wie ihm der Schweiß aus allen Poren trat. Was hatte dieser schreckliche Greis vor? Gerade, als er diesen Gedanken in seinem Kopf formulierte, öffnete Ronové seine Augen. Er wandte den Kopf und musterte ihn scheinbar belustigt. "Nicht was ich vorhabe, sollte Euch interessieren, Meister Schreiber, sondern wie ich es vorhabe!" Wie von einem Schlag getroffen, zuckte Boldwin zusammen. Wie war das... möglich? Doch ohne ihn zu schonen, fuhr der Earl mit ruhiger, leicht krächzender Stimme fort: "Ihr werdet heute mit den Vorbereitungen beginnen! Cleggard begleitet Euch nach unserem Gespräch in den Turm und steht während des ganzen Vorgangs an Eurer Seite. Ich veranschlage eingedenk Eurer jetzigen Verfassung sechs Monde bis zur Vollendung des Werkes. Liege ich damit in etwa richtig?" Ohne die Antwort seines Gegenübers abzuwarten fuhr er gleich darauf fort: "Ich gedenke Euch am jeweiligen ersten Abend nach Neumond angemessen zu entlohnen. Und wenn jetzt keine Fragen mehr sind, wird Euch Cleggard in den Turm begleiten. Messstäbe, Brillensteine und Skizzenblätter liegen genau wie Federn und Tinte reichlich bereit. Gehabt Euch wohl, Meister der Schrift!" Damit schloss er wieder die Augen und machte auch nach geraumer Zeit nicht den Eindruck, sie abermals wieder öffnen zu wollen. Cleggard trat vor und legte ihm auffordernd die Hand auf die Schulter. Dann wies er in Richtung Ausgang. Sie gingen schweigend über den leergefegten Hof. Selbst der strahlende Sonnenschein und die milden Temperaturen lockten offensichtlich keinen der Bewohner des Schlosses nach draußen. Alles wirkte seltsam... tot. Während sie in Richtung des Turms gingen, vermochte Elias Boldwin seinen Drang zu fliehen nur mühsam zu unterdrücken. Und er verfluchte den Augenblick, als sie im Wald Cleggard begegnet waren und eingewilligt hatten, ihn hierhin zu begleiten. In diesem Moment fiel die Erkenntnis über ihn und er wusste, woran ihn Cleggards Gestik während des Festes erinnert hatte - das Wesen aus seinem Traum! Als er vor einigen Tagen in tiefem Schlaf gelegen und von Mae und ihrer Suche nach Beeren geträumt hatte, hatte sich diese Gestalt in die Szene geschlichen und ihren langen, spinnenartigen Finger demonstrativ an ihre schrecklich fleischlosen Lippen gelegt und ihm dabei ein Auge zugezwinkert. Cleggard! Elias Boldwin war an einem Punkt angelangt, an den ihn nichts mehr überraschen konnte. Falls Cleggard über eine ähnliche Gabe wie sein Herr verfügte, so ließ er sich nichts anmerken, pfiff vor dem zeichenübersäten Portal eine Melodie, holte den Schlüsselbund aus der Tasche und sperrte die Pforte auf. Dann machte er eine einladende Geste, kniff Boldwin dabei wieder ein Auge zu und sperrte, nachdem beide eingetreten waren, die Tür von innen wieder zu. Sodann hieß er den Schreiber vor ihm die Treppen hinaufzusteigen und folgte ihm auf den Fuß. Nach dem letzten Treppenabsatz betraten sie den seltsamen Raum, in dessen Mitte weiterhin konstant das unheimliche blaue Feuer prasselte. Im Hintergrund gewahrte Boldwin die metallene Schranke und dahinter aufgeschlagen und seltsam lockend im Widerschein der Flammen die geheimnisvollen Papyrus-Schriften mit ihren grässlichen Darstellungen, die er nach dem Willen des Earls möglichst detailgetreu kopieren sollte. Nachdem sie den Raum in seiner ganzen Länge durchquert hatten, wies sein Begleiter auf einen massiven Tisch aus dunklem Holz, auf dem sorgfältig aufgereiht die von Earl Ronové versprochenen Utensilien bereitstanden. Vor dem Tisch befand sich ein gepolsterter Stuhl mit hoher Lehne, der einladend halb zur Seite gerückt auf ihn zu warten schien. "Nehmt doch Platz, Meister Schreiber! Ich hoffe, Ihr findet alles zu Eurer Zufriedenheit!" Er hielt kurz inne. Dann nickte er in Richtung des Papyrus, das direkt neben dem Tisch ausgestellt war. "Wenn Ihr es für nötig befindet, das gute Stück weiter auszudrehen, so sagt doch bitte Bescheid. Wir leisten gerne Unterstützung. Wäre doch ein Jammer, wenn es durch eine Unachtsamkeit Eurerseits noch heftiger beschädigt würde, oder?" Er lächelte ein breites Grinsen, so als ob ihm das Ganze hier nichts bedeutete oder noch mehr: Als ob er ihn mit jedem seiner Worte genüsslich verhöhnte. Boldwin nickte kurz. Dann setzte er sich wie ihm geheißen auf den Stuhl und griff sich eine der bereitgestellten Federn; er strich instinktiv mit sicherem Griff über die Spitze und stellte fest, dass sie tadellos geschärft worden war. "Ihr seht, Boldwin, wir überlassen nichts dem Zufall! Nun tut Eure Arbeit und macht Earl Ronové glücklich!" Cleggard wandte sich zum Gehen. Dann verharrte er nochmals und beugte sich von hinten über den vor ihm sitzenden alten Mann. "Ach... ehe ich's vergesse: Ihr arbeitet vor Beginn des Sonnenaufgangs bis nach Sonnenuntergang; dann werdet Ihr von mir abgeholt und auf Euer Zimmer gebracht. Zwischendurch bekommt Ihr die üblichen Mahlzeiten. Zum Austreten benutzt Ihr den Bottich am obersten Absatz der Treppe. Ich hoffe also...", er leckte sich genüsslich über die Lippen, ohne sich im geringsten von Boldwins Ohr zu entfernen, "... ich hoffe, Ihr seid heute so zeitig erwacht, dass Ihr den Sonnenaufgang genießen konntet; denn es wird auf absehbare Zeit Euer letzter gewesen sein, den Ihr mit ansehen durftet! Im Übrigen... der Stein, den Ihr geworfen hattet, hat eine hübsche Narbe an diesem vollendeten Körper hinterlassen. Aber man sagt ja, dass ein Mann erst dann ein rechter Mann ist, wenn ihn eine verwegen ausschauende Narbe ziert! Wenn Ihr also mal sehen wollt?" Er strich sich mit der einen Hand die Haare aus der Stirn, mit der anderen drehte er Elias Boldwins Kopf zu sich. Dieser konnte nicht anders, als auf das rote, wild gewachsene Fleisch zu starren, das knapp unterhalb des Haaransatzes auf Cleggards Stirn prangte. Ein Stöhnen entrang sich seiner Brust und sein Körper begann zu zittern. "So - jetzt lass ich Euch aber in Ruhe, sonst kann es, so fürchte ich, gewiss sein, dass Ihr noch vor der Vollendung Eures Meisterwerks das Zeitliche segnet - und das wäre natürlich jammerschade; ganz zu schweigen davon, was der Earl dazu sagen würde. Er wäre glatt imstande, Eure vertrocknete Seele wieder aus dem tiefsten Fegefeuer hervorzuholen, um Euch die Leviten zu lesen! Aber wie gesagt: Ich bin jetzt still und verabschiede mich!" Er knipste ihm erneut ein Auge zu und legte dabei demonstrativ einen Finger auf die Lippen. Dann ging er pfeifend zur Treppe und verschwand nach unten. Der Schreiber saß gewiss eine Stunde wie gelähmt auf seinem Stuhl. Das einzige, was er wahrnahm, war das Flackern der blauen Flammen und ein Rascheln wie von Mäusen oder sonstigem Getier. Ansonsten hatte er die Außenwelt weitestgehend ausgeblendet. Er, Elias Boldwin, ehemaliger Schreiber des Königs, hatte immer gedacht, er sei, hartgesotten durch Schlachten und Intrigen, ohne Ängste oder allzu feinnervige Gefühlsduseleien durch die Welt gegangen und nichts hätte ihm etwas anhaben können. Aber das hier und all die Dinge, die in den letzten Tagen geschehen waren, hatten ihre Spuren hinterlassen und er merkte, wie der Wahnsinn Schritt für Schritt von ihm Besitz zu nehmen drohte; dabei war er so unendlich müde und sehnte sich nach der wohlverdienten Ruhe in einer besseren Welt als dieser hier. Wie einfach mochte es sein, sich mit dem scharfen Federkiel die Adern zu öffnen oder ihn gar in die Halsschlagader zu rammen. Er griff nach dem Schreibinstrument und hielt es prüfend in der Hand. Wie scharf sie doch war... Sein Arm hob sich und führte die Feder ohne sein Zutun an den Hals. Schon ritzte die Spitze die Haut neben dem Kehlkopf... Nur noch ein kleiner Ruck und all das hier war Vergangenheit! Sein Puls ging schneller, dann atmete er tief ein und spannte die Armmuskeln... ein letztes Mal... Doch unvermittelt riss er seinen Arm gewaltsam wieder nach unten und schmiss den Kiel zurück auf den Tisch. Nein! Er durfte nicht - nicht solange Maes Leben von seinem Wohlverhalten gegenüber diesen Bestien abhing! Es blieb ihm nichts anderes übrig, so verzweifelt er doch nach einer anderen Lösung suchte.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Mar 26, 2016 ⏰

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