Das Labyrinth

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Sie hatten sich in den frühen Morgenstunden ausgeschifft. Das Ruderboot, von zwei kräftigen Besatzungsmitgliedern der Cherub vorangetrieben, setzte nach einer halben Stunde an demselben Strand auf, den auch Gautama und seine Männer unfreiwillig betreten hatten... Carl verbesserte sich in Gedanken: Betreten werden! Es war zum Verrücktwerden! Sie ankerten etliche Jahrhunderte vor dem italienischen Seefahrer in der unglückseligen Bucht. Zumindest nahm er das an. Genaueres wussten bestenfalls Herr Dallgruber oder Capitano Charonus. Und beide hatten es sich offensichtlich zur Aufgabe gemacht, Informationen nur in spärlichen Portionen weiterzugeben. Sein Blick fiel auf Malte. Dem schien dies nichts auszumachen und mit einer beneidenswerten Gelassenheit döste er während der ganzen Überfahrt im Ruderboot vor sich hin. Nun ja, er hatte schließlich auch viel Schlaf nachzuholen nach der sturmumtosten Passage. Herr Dallgruber hingegen wippte im Bug des Boots von einem Bein auf das andere, ganz so, wie es seine Art war, um überschüssige Energie abzubauen, von der er offensichtlich eine ganze Menge besaß. Nachdem sie aufgesetzt hatten, warfen ihnen die Männer Proviant und das nötige Gepäck in den Sand und warteten, bis die drei Weggefährten hinterhergesprungen waren. Sodann schob der noch völlig benommene Malte das Beiboot mechanisch zurück ins Wasser und die zwei Matrosen verschwanden freundlich nickend im dämmrigen Grau des neuen Tages, während ihr Boot auf die Positionslichter des großen Schiffes zustrebte. Bei dem Gedanken daran, wo sie gerade standen und was sie vorhatten, beschlich Carl ein flaues Gefühl. Der Plan schien ganz einfach: Sie beschritten den Weg Richtung Labyrinth, achteten darauf, ja nicht von der markierten Trasse abzukommen und betraten am Endpunkt genau wie Gautama diesen seltsamen Ort. Laut Capitano Charonus bestand bei Einhalten dieser einfachen Vorgaben keinerlei Gefahr. Auf den Sinn und Zweck der ganzen Aktion angesprochen, hatte Herr Dallgruber eine entwaffnend offene und genauso rätselhafte Antwort gegeben: Es ging um das Erlangen eines Vorteils gegenüber dem Feind durch diesen unerwarteten Schachzug.

Der Weg lag erstaunlich deutlich vor ihnen - ganz so wie eine Einladung ihn zu beschreiten - oder wie eine Falle... Der Hausmeister schnappte sich den ersten Seesack und warf ihn über die Schulter. "Na, dann wollen wir mal!" Damit sprang er durch den feuchten Sand direkt auf den Beginn des Weges zu. Malte zuckte gähnend die Schultern, ergriff den nächsten Leinensack und stapfte hinterher. Carl hatte wieder seinen Rucksack gegürtet und lief hinter den beiden. Der Weg wirkte zwar schon zu Beginn recht unheimlich auf ihn, doch alleine am Strand zurückbleiben war fast noch schlimmer. Sie passierten zwei runenbeschriebene Stelen und sogleich darauf erspürten ihre Füße festen Stein. Ab sofort liefen sie über festgefügte Platten, die nahtlos aneinander gelegt bis zum Horizont zu reichen schienen. Links und rechts meinte Carl bereits die schemenhaften Schatten zu erspähen, die Gautama so bedrohlich beschrieben hatte - aber genauso gut konnte ihm seine Phantasie im Zwielicht des beginnenden Tages auch nur einen Streich spielen, zumal weder Malte noch Herr Dallgruber Hinweise darauf gaben, dass sie Ähnliches wahrnahmen. Und so beschloss auch er, kein großes Aufhebens davon zu machen und den beiden einfach zu folgen.

Nachdem sie sich warm gelaufen hatten, ging es gut voran und bereits zur Mittagszeit hatten sie einen erhöht liegenden Punkt erreicht, von wo aus das Meer nur noch ein ferner, silbriger Streifen am Horizont war. Sie beschlossen eine Rast einzulegen. Herr Dallgruber warf seinen Seesack unter eine auffallend verkrüppelt gewachsene Eberesche; alsdann saßen sie und aßen von der Wegzehrung, die der gute Pambroke ihnen mitgegeben hatte. Als dann auch noch die Sonne durch den bis dahin bleigrauen Himmel hervorbrach, fanden sie fast so etwas wie Entspannung und genossen die wildherbe Landschaft dieser seltsamen Insel inmitten des tosenden Atlantiks. Nach einer guten Stunde, in der viel Belangloses über Capitano Charonus und die vergangene gemeinsame Schulzeit geredet wurde, sprang Herr Dallgruber unvermittelt auf und packte seine Sachen hastig wieder zusammen. "Wir sollten hier recht schnell verschwinden, Jungs! Die Zeit schreitet voran!" Auf den fragenden Blick Carls fügte er hinzu: "Ich weiß auch nicht - aber im Laufe der Zeit hab ich gelernt, auf meine innere Stimme zu hören; und die ruft grad ganz laut, dass wir von hier fortgehen sollten!" Sie waren kaum fünf Minuten gegangen, da hatte der Himmel sich wieder zugezogen und ein heftiger Wolkenbruch zog einen schier undurchsichtigen Regenschleier vor die zerklüftete Umgebung. Unvermittelt blieb Malte, der die Nachhut bildete, stehen und rief "Halt! Wartet mal!" Dann lauschte er angestrengt in die Wand aus Regen, die sie von allen Seiten umschloss. "Ich glaube, wir sind nicht allein! Da kommt jemand hinter uns!" Herr Dallgruber nickte beinahe zufrieden: "Hab ich's doch geahnt! Schon die ganze Zeit hatte ich so ein Kribbeln im Nacken!" Ohne weiter auf Carl zu achten, der abwartend direkt neben ihm stand, setzte der Hausmeister seinen Seesack auf den nassen Steinboden, öffnete ihn und kramte konzentriert in ihm herum. Schließlich zog er einen kleinen braunen Beutel hervor, öffnete auch diesen mit geübtem Griff und schüttete den Inhalt vor sich auf die schwarz glänzende Straße. Knochen! Das, was Carl da auf dem Boden liegen sah, waren ungefähr zwei Dutzend kleine Gebeinstücke, deren jedes mit seltsamen Zeichen beschrieben oder graviert war. "Tretet hinter mich und die Runensteine, Jungs!" Die Stimme des Älteren klang bestimmt und ließ keinen Widerspruch zu. Und so taten Malte und Carl wie ihnen geheißen und stellten sich so hinter Herrn Dallgruber, dass ihr Blick auf die graue Regenwand fiel, aus der sie gerade erst gekommen waren. Der, den Capitano Charonus grundsätzlich mit Mijnher van der Daal angesprochen hatte, wirkte auf einmal größer und respekteinflößender auf Carl, als es der Hausmeister ihrer Schule je gewesen war. Er murmelte seltsame Worte in einer völlig unbekannten Sprache und ließ dabei seine Hände beschwörend über den Steinen kreisen. Maltes Minenspiel schwankte zwischen ungläubigem Feixen und Ehrfurcht. Es wurde Carl klar, dass sein Weggefährte bislang noch nie eine ähnliche Vorstellung Herrn Dallgrubers miterlebt hatte. Abermals kreisten die flinken Hände van der Daals über den Knochen, während er weitere Worte in dieser seltsamen Sprache von sich gab; da schälte sich aus dem Regenschleier vor ihnen ein freundlich winkender Mann mittleren Alters, angetan mit schwerem Regenmantel und einem breitkrempigen Hut, den er trotz des schlechten Wetters nachlässig in den Nacken geschoben hatte. "Seid mir gegrüßt, Ihr Leute! Ist das nicht ein scheußliches Wetter hierzulande?" Er machte Anstalten, einfach weiter auf sie zuzugehen und streckte bereits seine Hand zum Gruß aus, da verharrte er urplötzlich kurz vor ihnen. Sein freundliches, rotbäckiges Gesicht entgleiste für den Bruchteil einer Sekunde und Carl meinte in seinen Augen kaum gezügelte Wut auflodern zu sehen. Doch sogleich stellte sich wieder der freundliche Gesichtsausdruck ein und der Mann fuhr fort munter weiterzureden, als ob nichts geschehen sei. "Da habt ihr euch aber ein paar wirklich verregnete Stunden ausgesucht für eure Wanderung! Wo solls denn hingehen, wenn ich fragen darf?" Seine Stimme klang harmlos und die Frage wirkte eher beiläufig, aber Carls Sinne horchten auf und signalisierten ihm, dass die Frage alles andere als beiläufig gemeint war. Malte wollte bereits antworten, da beeilte sich Herr Dallgruber statt seiner zu sagen: "Verzeiht, mein Herr. Wie war doch gleich Ihr werter Name?" Ihr Gegenüber runzelte die Stirn. "Was tut das jetzt zur Sache, werter Mann? Aber nun gut - da ich Höflichkeit als kostbares Gut achte und schätze, erlaubt mir, mich Euch vorzustellen." Er machte eine Kunstpause und vollführte sodann inmitten des strömenden Regens die Andeutung einer Verbeugung mit nach hinten ausgreifendem Fuß. "Mein Name ist Gunnar Einarsson und ich werde eines Tages auf diesem herrlichen Eiland inmitten unermesslicher Wasserfluten das Licht der Welt erblicken! Aber bis es soweit ist, wandle ich vorab schon mal etwas umeinander und sehe mich um, wenn Ihr versteht? Und Ihr seid...", er schnalzte leise mit der Zunge am Gaumen, "... Ihr seid alles andere als harmlose Wanderer zwischen den Zeiten, nicht wahr?" Seine Augen blickten listig und verharrten schließlich auf Mijnher van der Daal, der sich immer noch schützend zwischen dem seltsamen Mann, der sich Einarsson nannte, und seinen Begleitern aufgebaut hatte. "Ganz recht, Meister des Truges! Ihr seid es gewiss auch nicht! Mit jedem Wort und jeder Geste habt Ihr Euch verraten! Wer schickt Euch? Jemand von ganz oben? Und erzählt mir nicht, Ihr handelt auf eigene Faust! Kreaturen von Eurem Schlag sind dazu gar nicht in der Lage! Verzeiht, wenn ich es so direkt ausspreche. Aber uns bleibt kaum mehr Zeit für Höflichkeiten!" Das Lächeln dessen, der sich Gunnar Einarsson nannte, gefror zu einer Maske. Dann stieß er mit gepresster Stimme hervor: "Ihr haltet Euch wirklich nicht mit sanften Worten auf, guter Mann! Oder sollte ich Euch eher Mijnher van der Daal nennen? Und wer sind Eure jungen Begleiter? Ihre Angst konnte ich schon meilenweit riechen. Besonders die von dem da!" Er wies mit einem Finger auf Carl. Sein Blick war lauernd. Malte schob sich instinktiv nach vorne und verdeckte den jungen Mann fast mit seinen breiten Schultern. Die Situation nahm an Schärfe zu. Auf einmal jedoch fing Einarsson lauthals an zu lachen. "Was sind wir doch für Narren! Da haben wir denselben Gegner und stehen uns hier dennoch so unversöhnlich gegenüber!" Er machte mit der linken Hand eine wegwischende Handbewegung über den Boden vor ihm. "Räumt das Zeug hier weg, dann setzen wir uns gemütlich irgendwo unter einem Baum zusammen und sprechen in Ruhe miteinander, bester van der Daal!" Während der seltsame Verfolger das sagte, legte er wieder sein gewinnendes Lächeln auf, ganz so, wie man das eine Kleidungsstück gegen ein anderes eintauscht. Van der Daal zuckte die Schultern. "Das könnte ich sicherlich machen, werter Einarsson, aber die Sache hat einen Haken: Ich traue Euch nicht - und das nicht im Geringsten!" Schweigen legte sich auf die Gruppe, die inmitten einer unwirklichen Landschaft ein unwirkliches Gespräch führte, über Dinge, die Carl beim besten Willen nicht einordnen konnte. Gunnar Einarsson ging vor ihnen auf und ab wie ein Raubtier im Käfig. Malte ließ ihn nicht eine Sekunde aus den Augen, blieb aber ansonsten genauso regungslos stehen wie seine beiden Begleiter. Es war Carl, der nach geraumer Zeit wieder das Wort ergriff: "Was... was wollt Ihr wirklich von uns? Ich mein, warum die ganzen Mühen, uns einzuholen und so. Nur um mit uns in Ruhe zu reden?" Einarsson blieb stehen und blickte ihn feixend an: "Aha! Der junge Herr kann ja doch sprechen!" Er beugte sich soweit vor, wie es die seltsame Barriere Herrn Dallgrubers zuließ. Malte zuckte zusammen und Carl wich einen Schritt zurück. Nur der Hausmeister verharrte ungerührt an derselben Stelle. Dabei murmelte er: "Ganz ruhig, Jungs! Er kann hier nicht durch. Die Kraft der Steine ist zu stark." Ganz so, als sei es eine Bestätigung seiner Worte, ließ der Regen gerade in diesem Moment nach und die Sonne machte Anstalten, ihren Platz am Himmel zurückzuerobern. Der merkwürdige Verfolger schien die Symbolik in diesem Wetterwandel zu erkennen, denn während er kurz nach oben schaute entfuhr ihm ein verächtliches Schnauben. "Na - jetzt denkt ihr natürlich, dass es IHM gefällt, auf eurer Seite zu stehen, nicht wahr? Typisch für euch Menschen. Mit so wenig so schnell zufriedenzustellen!" Dann lachte er wieder. Aber irgendwie hatte Carl den Eindruck, als klang es diesmal gepresster und sogar etwas verunsichert. Einarsson wurde offensichtlich langsam nervös. Herr Dallgruber ging in die Hocke und packte seinen Seesack wieder zusammen. Dabei legte er keine besondere Eile an den Tag, sondern schien im Gegenteil sogar bewusst zu trödeln; und um das Maß voll zu machen, pfiff er dabei eine gemächliche Melodie, die Carl irgendwie bekannt vorkam. Malte tat es ihm nach und drehte sich dann einfach in Richtung der unbekannten Straße um, ohne noch einen weiteren Blick an ihren Verfolger zu verschwenden. Das war offensichtlich zu viel für diesen, denn unter einem wütenden Grollen, das sich aus den Tiefen seines Leibes löste und so unirdisch und bedrohlich wie das des Cerberus persönlich klang, stürzte Einarsson auf Malte los. Dabei schrie er: "Dreht mir nicht den Rücken zu, ihr menschlichen Missgeburten!" Doch kaum hatte er einen Schritt gemacht, prallte er auch schon zurück, als sei er gegen eine Wand gelaufen. Carl stand mit offenem Mund da und starrte erst auf den am Boden liegenden Einarsson, dann auf die unverrückt an Ort und Stelle verteilten Knochensteine. Eine wahrhaft mächtige Barriere, die Herr Dallgruber da errichtet hatte! Dieser kniff ihm jetzt ein Auge zu und forderte ihn auf, weiterzugehen. "Los, Junge! Wir sind schon spät dran gewesen - auch ohne diesen... Zwischenfall hier. Wir müssen uns sputen!" Sie eilten über die regennasse Straße, die jetzt so stark von der Sonne beschienen wurde, dass sich die Feuchtigkeit zusehends in Nebelschwaden auflöste und nach oben stieg. Hinter ihnen vernahmen sie noch geraume Zeit das Fluchen und Zetern des unheimlichen Verfolgers, der ihnen sämtliche Krankheiten der Hölle an den Hals wünschte und ihnen versprach, dass sie sich wiedersehen würden. Rückblickend fiel es Carl nicht leicht auszumachen, wie viel Kilometer sie an diesem Tag zurückgelegt hatten, aber als sie am späten Abend in der hier so hoch im Norden gerade erst einsetzenden Dämmerung erneut einen Baum anstrebten und Herr Dallgruber vorschlug, dort das Nachtquartier aufzuschlagen, waren weder Malte noch er betrübt darüber und gingen dankbar daran, die beiden Zelte zu errichten, die sich in den Seesäcken befunden hatten.

Das FragmentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt