Begegnung

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Sie waren bereits zwei Stunden unterwegs, ohne auf Menschen oder menschliche Siedlungen gestoßen zu sein. Mae ging voraus und drückte Äste und Zweige beiseite, damit Boldwin besser vorankam; er selbst unterdrückte so gut es ging jeden Laut des Schmerzes und versuchte zu verbergen, wie anstrengend ihm jeder Schritt auf dem unebenen Waldpfad fiel. Erschwerend hinzu kam, dass der Weg seit geraumer Zeit in einer leichten Steigung bergan ging - die Westmidlands waren eine Erhebung im Nordwesten Englands, die man als wenig geübter oder versehrter Wanderer schon unangenehm spüren konnte; und Boldwin war überdies nicht mehr der Jüngste. Der Wald lichtete sich zu ihrer Linken und Mae blieb stehen. Auch ihr Atem ging schwerer. Sie wies mit einer Hand auf das Szenario unter ihnen. In einiger Entfernung stiegen Rauchwolken auf. Wenn der Wind in ihre Richtung drehte, konnte man sogar die Schreie und Rufe der Menschen hören, die aus ihren brennenden Häusern liefen. Boldwin kannte die drei Dörfer, die dort unten lichterloh brannten. Gute, arbeitsame Menschen hatten sie mit Viehzucht und Ackerbau zu einigem Wohlstand gebracht und einer seiner Jagdpächter wohnte dort. Jetzt waren sie geplündert und nur die Entfernung und der dichte Rauch verhinderten, dass Mae und Boldwin alle grausamen Details dieser Plünderung zu sehen bekamen. "Wir sollten weitergehen, Master!" Mae zog ihn sanft am Ärmel; er ließ es geschehen. Seine Augen hatten sich mit Tränen gefüllt. Was tat der Mensch anderen Menschen hier nur an!


Bald barg das Dach des Waldes sie wieder und mit jedem Schritt, den sie sich von Wolverhampton und den brennenden Dörfern entfernten, schien Mae befreiter und fröhlicher zu werden. Immer, wenn der alte Mann stockte oder nach Luft japste, ging sie zurück und erzählte ihm etwas Aufmunterndes oder lächelte ihn einfach nur freundlich an. Und so wurde es später Nachmittag, bis sie endlich beschlossen, eine Rast einzulegen. Boldwin setzte sich ächzend auf einen Teppich aus Moos, der unter einer hochgewachsenen Buche lag, während Mae nach Pilzen und Beeren Ausschau hielt. Bald kam sie mit etlichen Handvoll zurück und streckte ihm stolz das Gefundene hin. Der Schreiber lächelte gerührt, dann griff er nach einem bejahenden Nicken von Mae herzhaft zu. Sie wartete, bis er fertig war, dann aß sie den Rest, schaute nach seinen verbrannten Händen, die schon viel besser aussahen als heute Morgen, wickelte sie in frische Lumpen, die sie aus einer Tasche zog und sammelte abermals Beeren. Boldwin merkte, wie ihn die Müdigkeit überfiel; und während er noch dem Mädchen beim Sammeln der Früchte zusah, schlief er ein. In seinem Traum saß er immer noch auf der Lichtung und schaute Mae beim Suchen zu, doch auf einmal wurde es dämmerig und die Vögel in den Bäumen verstummten. Ein Wind kam auf, Blätter raschelten und die Wipfel der hohen Bäume schwankten rauschend hin und her. Irgendetwas stimmte nicht! Elias Boldwin wollte nach dem Mädchen rufen, doch seine Stimme wurde vom Rauschen des Windes übertönt. Mae verschwand jetzt hinter einem der großen Baumstämme, nur um gleich wieder neben dem Stamm aufzutauchen und weiterzusuchen. Das ging bestimmt fünf Minuten lang so, ansonsten geschah nichts. Boldwin wollte sich bereits wieder in seinem Traum einrichten und entspannen, da sah er mehr aus den Augenwinkeln, als dass er es direkt wahrgenommen hätte, einen dunklen Schatten, der von einem Baum zum nächsten huschte und dabei der beerensuchenden Mae entgegenlief. Es war nur noch eine Frage der Zeit, wann beide aufeinandertreffen würden. Was dann geschähe, mochte der Schreiber sich seltsamerweise noch nicht einmal ansatzweise vorstellen. Er krächzte eine Warnung an seine Begleiterin, die jedoch so kläglich über die Lippen kam, dass er sicher war, nicht gehört zu werden. Und wirklich suchte sie weiter nach Beeren und anderen Früchten, während sich der Schatten schleichend näherte. Jetzt konnte Boldwin ihn deutlicher erkennen. Hatte er zunächst sofort an den unheimlichen Besucher von letzter Nacht in der Waldhütte gedacht, so erkannte er, dass dieser hier kleiner war aber in irgendeiner Weise noch gefährlicher wirkte. Schien das Schattenwesen ihn bislang nicht wahrgenommen zu haben, so drehte es ihm unvermittelt das volle Gesicht zu - rote Augen starrten ihn eine Sekunde wissend an, dann kniff die Gestalt ihm verschwörerisch-spöttisch ein Auge zu und legte einen langen, spinnenbeinartigen Finger an den dunklen, weit geöffneten Mund. Mae war vielleicht noch zwei Baumstämme von dem Wesen entfernt, das jetzt geduckt wie zum Sprung auf das scheinbar Unvermeidliche wartete. Boldwin nahm alle Kraft zusammen, von der er noch nicht einmal wusste, woher er sie hatte, packte einen vor ihm liegenden Stein, zielte so gut es ging, und schleuderte ihn in Richtung der wartenden Kreatur. Offensichtlich hatte diese nicht mit Widerstand von irgendeiner Seite gerechnet, denn der Stein traf sie mit dumpfem Knall direkt an die Schläfe. Wutentbrannt heulte sie auf, so laut, dass Mae stehenblieb und sich erschrocken umsah. Das schattenhafte Wesen starrte ihn abermals an - diesmal jedoch so hasserfüllt, dass dem Schreiber das Blut in den Adern gefror. Dann sprang es so schnell hinter dem Baum hervor und auf ihn zu, dass Boldwin keine Zeit mehr hatte auszuweichen oder zu fliehen. Er schrie so laut auf, dass er davon erwachte. Die milde Nachmittagssonne fiel durch das Grün des Laubes auf den Boden des Waldes und erzeugte immerzu wechselnde Muster. Mae stand besorgt vor ihm und beugte sich jetzt zu ihm herunter. Um sie herum lagen verstreut rote und blaue Beeren. "Was habt Ihr, Master Boldwin? Euer Schreien hat mich sehr beunruhigt!" Er schüttelte den Kopf. "Das... tut mir leid, Mae! Ich wollte dich nicht erschrecken! Nur ein schlechter Traum, gewiss!" Er schüttelte den Kopf, dann stand er ächzend auf. Sein Blick fiel auf die wenige Meter entfernten Baumstämme. Unsicher ging er zu ihnen hinüber. Dann taumelte er schlagartig zurück. Das konnte nicht sein! "Was habt Ihr?" Mae stand neben ihm und starrte auf den Stein am Waldboden. "Ach... ich dachte für eine Sekunde, dies sei ein Knochen oder ein Runenstein oder sowas!" Während er dies sagte, bückte er sich und hob den Stein auf. "Stattdessen...", er zwang sich zu einem Lachen, "... seh ich schon Gespenster!" Er drehte den Stein in der Hand und erstarrte. Auf der Rückseite seines Fundes schimmerte etwas feucht. Obwohl er bereits wusste, was es war, drehte er den Stein in die Helligkeit über ihnen. Der Fleck auf dem Stein glänzte jetzt rot.

Das FragmentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt