Geben und Nehmen

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Mae erwachte in einem sonnendurchfluteten Raum. Das erste, was sie sah, waren bunte Bilder, die Ritter im Wettstreit mit Lanze und Schwert zeigten. Daneben andere Darstellungen von stickenden Edelfrauen und jagenden Männern in lindgrünen Hosen und weißen Hemden. Über ihr spannte sich ein weit ausladender, mit goldenem Brokat und tiefroten Voluten verzierter Baldachin, der über und über mit diesen Szenen aus der Welt der Adeligen versehen war. Ihre Hände strichen über weichen Stoff und ihr Kopf lag etwas erhöht auf einem duftenden Kissen. Von draußen war das Zwitschern von Vögeln zu hören und irgendwo hämmerte jemand auf Metall. Ansonsten umgab sie eine tiefe Stille, die äußerst wohltuend wirkte. Sie richtete sich auf und sah an sich herunter. Anstatt der zerschlissenen, völlig verdreckten Kleidungsstücke des toten Eber-Wirt-Sohnes trug sie ein weißes Nachthemd, auf dem in Brusthöhe ein Wappen oder Siegel eingearbeitet war - was genau, konnte sie nicht erkennen, es war ihr augenblicklich aber auch egal. Denn etwas Anderes nahm jetzt ihre ganzen Sinne in Anspruch und schien auch der Grund dafür gewesen zu sein, dass sie erwacht war. Vor ihr, am Fußende des Bettes, stand ein rundes Tischchen, das mit Obst, Brot, Käse, Schinken und einem Krug Milch gedeckt auf sie zu warten schien; das Brot war augenscheinlich frisch gebacken worden und verströmte einen Duft, der ihr buchstäblich das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ und das Mädchen daran erinnerte, wie hungrig sie doch war. Mit etwas unsicheren Beinen sprang sie aus dem hohen Bett. Ihre Füße fühlten kalten Steinfußboden, beim Schritt darauf jedoch einen angenehm warmen Teppich, der ihren Gang zum Tisch abfederte. Ohne auf das bereitliegende Silberbesteck zu achten, griff Mae zu und schlang Brot und Käse gierig herunter. Dabei schweiften ihre Augen vom Bett mit Baldachin zum säulenumrahmten Kamin an der gegenüberliegenden Seite des Zimmers und blieben an den flatternden Gardinen vor dem großen Fenster hängen. Sie nahm ein Stück Brot in die Hand und ging auf sie zu. Hinter den Gardinen schimmerten weiße Steinpfosten, die eine ebensolche Brüstung stützten. Ein Balkon! Sie strich den dünnen Stoff beiseite und trat hinaus. Heller Sonnenschein umfing das Mädchen und ließ sie im ersten Augenblick blinzeln. Die Sonne stand schon hoch am blauen Himmel. Sie beugte sich über die steinerne Umrandung und schaute in die Tiefe. Weit unter ihr sah sie einen Burghof, der vollkommen menschenleer war und halb im Schatten lag. Enge Gassen schlossen sich an diesen an und verschwanden zwischen dicht gedrängten Häusern. Auch hier erspähte sie keine Bewohner. Stattdessen klappten ein paar Fensterläden im Wind und hier und dort spielten ein paar Katzen mit umherfliegenden Blättern. Das Hämmern von Metall hatte aufgehört. Die Ruhe, die sie gerade noch als so wohltuend empfunden hatte, wurde drückend. Gerade wollte sie sich verunsichert vom Balkon abwenden und wieder ihr Gemach betreten, da gewahrte sie das helle Glitzern von einer der gegenüberliegenden Zinnen der Burg, ein Glitzern, das gleich darauf verschwand, nur um dann wiederzukehren. Mae legte eine Hand vor die Augen, um Näheres zu erkennen und meinte wirklich, menschliche Umrisse zu erfassen. Doch bevor sie sich sicher war, verschwand der Schemenhafte wieder hinter einer der Zinnen. Sie fühlte sich beobachtet und beeilte sich nun umso mehr, wieder in den gefühlten Schutz des Zimmers zu kommen.

Dort zögerte das Mädchen, ob es sich wieder an den Tisch setzen und weiteressen sollte - nach einer kurzen Bedenkzeit entschied sie sich dagegen und ging quer durch den Raum zu einer hölzernen Tür, die den Raum von der Außenwelt trennte. Sie rüttelte und zog am Türknauf, der jedoch nicht nachgab. Die Tür gab nicht einen Spaltbreit nach. Offensichtlich war sie eingesperrt! Ein Gefühl der Panik unterdrückend, legte sie ein Ohr an das Holz der Tür - sie meinte, ein Räuspern und unterdrücktes Husten zu hören und kurz darauf gedämpfte Stimmen, die sich leise unterhielten.

Boldwin erwachte ebenfalls in einem großzügig ausgestatteten Raum unter einem Baldachin mit Jagdszenen und auch auf ihn wartete ein üppig bemessenes Frühstück, das ihn mit seinem Duft erst richtig erahnen ließ, wie viel Hunger er hatte. Nach dem Essen ging er jedoch nicht auf den auch bei ihm an den Raum angrenzenden Balkon, sondern zog sich die bereitliegende und mit Spitzen nach der neuesten flämischen Mode verzierte höfische Kleidung an; dann strebte er direkt auf die Holztür mit dem Knauf zu und öffnete diese. Vor ihr erstreckte sich ein mäßig hell beleuchteter Gang und seiner Tür direkt gegenüber hatte es sich Cleggard auf einem hohen Lehnstuhl bequem gemacht. Als er Boldwin heraustreten sah, machte sich ein freundliches Grinsen auf seinem Gesicht breit. "Ah - der Schreiber des Königs! Ihr habt gut geschlafen, Master Boldwin? Und das Essen war nach Eurem Geschmack?" Sein Blick drückte ernsthaftes Interesse an dem Befinden des alten Mannes aus. Als dieser bejahte, klatschte ihr Retter der vergangenen Nacht zufrieden in die Hände. "Na, dann ist ja alles bestens! Wegen der Geheimniskrämerei und der damit verbundenen Umstände am gestrigen Abend kann ich mich nur entschuldigen - aber die äußeren Umstände ließen es nicht zu, dass wir das Anwesen meines Herrn auf direktem Wege ansteuerten" Boldwin räusperte sich. "Wer... wer ist denn Euer Herr, Sir Cleggard? Ich mein, ich kann mich nicht entsinnen, einen Hochwohlgeborenen aus dieser Gegend jemals am Hofe König Richards gesehen zu haben." "Das liegt vielleicht daran, dass der ehrenwerte Earl of Ronové in seinen Landen eine gewisse Unabhängigkeit pflegt und geraume Zeit bei Hofe... nun... sagen wir, nicht im Vordergrund der königlichen Gunst stand!" Der Bärtige lächelte wissend, ganz so, als ob er einen einvernehmlichen Witz über die allseits bekannten Abläufe am Hofe gemacht hätte. Er erhob sich schwungvoll und machte eine ausladende Geste in Richtung der gemauerten Treppe, die Boldwin erst jetzt ausmachte. "Wenn Ihr mir folgen mögt, Meister Schreiber? Der Earl freut sich, Euch begrüßen zu dürfen! Er wies mich an, Euch unverzüglich zu ihm zu führen, sobald Ihr erwacht seid!" Boldwin nickte erfreut. Es war ihm ein offensichtliches Bedürfnis, ihrem Gastgeber für die freundliche Aufnahme zu danken; überdies war er neugierig auf diesen geheimnisvollen Earl am Rande der englischen Welt geworden. Während er dem entgegen des gestrigen Abends gemächlich schlendernden Cleggard die Treppe hinab folgte, schoss ihm der Gedanke an Mae durch den Kopf. Wo war sie? Man hatte ihnen nach ihrer Ankunft und eingedenk ihrer offensichtlichen Erschöpfung unverzüglich verschiedene Zimmer angewiesen und ihnen die Gelegenheit zum Bad gegeben, die beide erleichtert und erfreut ergriffen hatten. Danach hatte es wohl weniger als ein paar Augenblicke gedauert, bis sie jeder für sich todmüde auf die einladenden weichen Laken gefallen waren. Der alte Mann fragte nach dem Mädchen, während er unsicher eine nach der anderen die engen Stufen hinter Cleggard herabstieg. Was er hörte, beruhigte ihn. Mae sei noch beim Frühstücken und würde wohl in Kürze zu ihnen stoßen. Boldwin lächelte leicht. Mae war ihm mittlerweile recht ans Herz gewachsen, wenngleich er sich bisweilen ernsthaft fragte, ob es nur väterliche Gefühle waren, die ihn diesbezüglich bewegten. Sie betraten eine weite Halle, die sich direkt an den Treppenaufgang anschloss. Im Hintergrund prasselte ungeachtet des freundlichen Tages außerhalb der dicken Mauern ein kräftiges Feuer, das die Halle leidlich wärmte. Vor dem gemauerten Kamin saß eine gekrümmte Gestalt in einem hohen Lehnstuhl und streckte die Hände in Richtung der Flammen aus. Fast hatte Boldwin den Eindruck, die Gestalt hielte die Finger direkt in die Flammen, doch schien dies lediglich eine Täuschung seiner alten Augen zu sein, denn als sie näher auf den Herrn des weitläufigen Schlosses zutraten, sah Boldwin, dass dieser viel zu weit vom Feuer entfernt saß, um solch eine abwegige Handlung durchzuführen. Der Schreiber trat still und bescheiden an den hohen Stuhl und wartete, bis Cleggard ihn beinahe flüsternd bei dem Alten angemeldet hatte. Dieser hatte den Kopf lauschend zur Seite geneigt und wandte ihn jetzt blinzelnd in seine Richtung. Er lächelte leicht das Lächeln eines zahnlosen Greises, doch seine Augen blickten entschlossen und merkwürdig kalt, als sie ihn flink von oben bis unten begutachteten. Elias Boldwin zwang sich, diesem Blick standzuhalten, doch gelang ihm dies nur für Sekundenbruchteile, dann wandte er sein Gesicht ab und schaute verunsichert zu Boden. Earl Ronové erhob sich ächzend. "Seid mir gegrüßt, Master Boldwin! Es ist gut, dass Ihr es geschafft habt! Da draußen ist es für Männer des rechten Königs alles andere als sicher, hört man!" Er legte ihm eine Hand auf die Schultern. "Kommt und lasst uns ein paar Schritte gehen, Master!" Cleggard machte Anstalten ihnen zu folgen, doch der Earl winkte ab. "Ich benötige Euch grad nicht, Sir! Geht und seht nach dem Mädchen! Wir haben was zu bereden! Stoßt in einer halben Stunde wieder zu uns!" Cleggard nickte gehorsam und zog sich zurück Richtung Hauptgebäude. Sie verließen die kühle, dunkle Halle. Boldwin spürte die Hand des Earls auf seiner Schulter und musste ein seltsames Gefühl des Ekels, gar Abscheus unterdrücken; am liebsten hätte er diese Hand einfach wie eine seltene und hässliche Spinne heruntergefegt, so bedrohlich und besitzergreifend lag sie dort. Stattdessen zwang er sich dieses Gefühl zu unterdrücken und schritt mit dem alten, zahnlosen Greis die weiten Stufen zum Ausgang der Burg hinab, immer vorbei an aufmerksam blickenden, gerüsteten Wachen, die sie nicht einen Augenblick aus den Augen ließen. Nachdem sie das Portal durchquert hatten, fiel der helle Sonnenschein unvermittelt und mit voller Wucht auf sie, so dass Elias Boldwin zwangsläufig blinzeln musste. Abermals winkte der Earl ab, diesmal recht unwirsch, als einer der Bediensteten ihm seine Hilfe anbot. Stattdessen nutzte er sein Hand auf der Schulter des Schreibers, um sich von ihm vor den Wehrgraben der Festung führen zu lassen. Dort hielt er inne und dann standen beide und blickten einer dort errichteten Brüstung in die Ferne, wo sich bis zum Horizont eine bewaldete Hügelkette an die nächste erstreckte. "Ohne Zweifel ein guter Ort für weite Gedanken, nicht wahr, Master Boldwin?" Der Angesprochene nickte zögernd. Die Hand Ronovés lag wie Blei auf ihm. Der Earl schien zu bemerken, wie unwohl Boldwin sich dabei fühlte, denn unvermittelt zog er sie fort, nicht ohne dabei die Andeutung eines Grinsens zu zeigen. Es war dem Schreiber nicht ganz klar, warum dieser seltsame Mann ihn hierher geführt hatte. Gerade wollte er etwas erwidern, da hob sein Begleiter die linke Hand und fiel ihm ins Wort: "Bitte Meister Schreiber! Haltet inne und öffnet Euren Geist! Nehmt die Umgebung in Euch auf und atmet tief." Sie standen und schwiegen, während die Schlosswache hinter ihnen in gebührendem Abstand Aufstellung genommen hatte. Handwerker, Gesinde, das mit Botendiensten beschäftigt war und einige Bauern gingen neugierig vorbei. Nach einiger Zeit räusperte Boldwin sich und fragte geradeheraus: "Was ist Euer Begehr, Earl of Ronové? Ich mein, verzeiht, Sire, ich bin ein alter, bedeutungsloser Parteigänger König Richards, der überdies nicht mehr unter uns weilt! Meine Fähigkeiten sind obsolet geworden, seitdem die beweglichen Lettern aufgekommen sind..." Der Earl lachte seltsam tonlos. Ohne den Schreiber anzuschauen, die Unterarme auf die Brüstung gestützt, antwortete er schließlich: "Da irrt Ihr gewaltig, Master! Eure Dienste sind von so großem Interesse, wie Ihr Euch vielleicht nicht ausmalen könnt!" Er ließ die Worte wirken; dann fuhr er fort, den ungläubig Stirnrunzelnden unvermittelt scharf anblickend: "Euer Talent lag zu lange brach, soviel ist gewiss! Was wäre wenn ...", er unterbrach sich, um einem jungen Mädchen nachzusehen, das auf dem unterhalb von ihnen gelegenen, stark gewundenen Weg nach oben stieg. "Ihr fühlt Euch wohl untergebracht, sagtet Ihr?! Gut! Und wo wolltet Ihr gleich noch hin? Zur schottischen Grenze? Um was zu machen?" Boldwin zögerte. Ja, was wollte er eigentlich dort? Seinen Vetter aufsuchen... Und dann? "Ich habe dort die Möglichkeit Unterkunft und Auskommen zu finden, Sire." Der Earl wandte ihm jetzt seine volle Aufmerksamkeit zu: "Was wäre, Ihr würdet in meine Dienste treten, Boldwin? Ich hätte einen Auftrag für Euch, der Euren Fähigkeiten entspräche; ein Auftrag, den es so das letzte Mal vor Jahrhunderten gab." Die Miene des Schreibers, die bislang recht beherrscht gewesen war, drückte nun ohne sein Zutun Erstaunen und Neugier aus. Bot der greise Earl ihm soeben einen Ausweg aus seiner misslichen Lage an? Er bemühte sich um Fassung und fragte betont gelassen: "Worauf wollt Ihr hinaus, Sire?" "Begleitet mich ein Stück und ich zeigs Euch, Master!" Er legte ihm wieder die Hand auf die Schulter. Die Wachen traten beiseite und der Greis führte Boldwin zum Schloss zurück. Dieser wagte es nicht, die angsteinflößende Hand abzustreifen und ging in sein Schicksal ergeben mit. Sie passierten das große Eingangstor zum Innenhof, nur um sich, sobald sie es passiert hatten, linkerhand einer scheinbar unauffälligen, recht kleinen Pforte neben dem äußeren Wachturm zuzuwenden. Der Schreiber erkannte beim zweiten Hinsehen eingeritzte Zeichen und Worte in einer unbekannten Sprache direkt auf dem Türblatt. Er beugte sich vor und sah, dass die gesamte Pforte von oben bis unten mit teilweise bereits nachgedunkelten Gravuren übersät war. Unterdessen zog der Earl einen kleinen Schlüsselbund aus der Ärmeltasche seines Mantels hervor und machte sich kurz darauf an der Tür zu schaffen. Unvermittelt, ohne dass Boldwin es irgendwie bemerkt hätte, stand auch Cleggard wieder neben ihnen und lächelte ihm freundlich zu. Plötzlich wurde dem Schreiber schwindelig; mit einem Mal meinte er den Boden unter sich schwanken zu fühlen. Gleichzeitig vernahm er ein seltsames Wispern und Raunen wie von einer Vielzahl an Stimmen, die durcheinander sprachen und sich nicht auf einen gemeinsamen Text einigen konnten. Einzelne Worte, besonders klar und gar gellend ausgestoßen, vermochte er zu verstehen - eins schien einen Willkommensgruß zu formulieren, ein anderes hingegen einen Fluch. Ein drittes mochte lateinisch und ein viertes griechisch sein. Er begann zu schwitzen und hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Und so hörte Boldwin die Stimme des Earls wie durch einen Schleier aus Geräuschen: "... kommt Ihr, Master?!" Die Tür stand weit auf und die Stimmen im Kopf des Schreibers verstummten schlagartig. Auch der Schwindel hatte aufgehört. Nur die Hitze, die ihm den Schweiß aus den Poren getrieben hatte, ließ nicht nach, sondern wurde im Gegenteil noch stärker, als sie den engen Treppenaufgang hinter der seltsamen Pforte betraten. Earl Ronové ging voraus, dann kam Boldwin und hinter diesem schloss sich Cleggard an, nachdem er die Tür wieder sorgfältig verschlossen hatte. Es war dunkel in diesem Aufgang; nur ein seltsames Zwielicht, das direkt aus den Wänden zu kommen schien, tauchte die drei in eine trübe Dämmerung. Der Greis sprach klar und ohne zu schnaufen, während sie die Stufen erklommen: "Fürchtet Euch nicht, Meister Schreiber! Es war Bestimmung, dass Cleggard Euch im Wald fand und hierher brachte!" Noch drei, vier Spiralwindungen, dann öffnete sich der enge Treppenraum in eine geräumige Turmkammer mit runden Wänden. Hier nun erwartete Boldwin eine so seltsame Szenerie, dass er meinte, er liege noch unter dem roten Baldachin und träume einen fiebrigen Traum: In einem Kamin mit kupfernem Abzug inmitten des runden Raumes prasselte ein Feuer mit blauen Flammen und in diesem schwankten wie Gräser im Wind... dem Schreiber stockte vor Grausen schier der Atem! - kleine, menschliche Gestalten hin und her, die Münder und Augen voller Schrecken oder Schmerzen weit geöffnet, die Arme umeinander geschlungen oder flehentlich nach oben gereckt. An den Wänden standen abwechselnd Bücherregale mit schweren Folianten und daneben grotesk verzerrte Gestalten mit metallenen Rüstungen, deren Visiere aufgeklappt waren; in den handschuhbewehrten Pranken, fest umfasst, hielten sie schrecklich aussehende Waffen, mal einen Morgenstern mit langen Widerhaken, mal eine stählerne Peitsche mit eisernen Dornen. Boldwin zuckte ob des Anblicks merklich zusammen; da spürte er, wie Cleggard ihm beruhigend von hinten die Hand auf den Rücken legte, dabei jedoch kein Wort sprach. Die einzige Lichtquelle im Raum war das grässliche blaue Flammenmeer im Kamin und so war er nicht einmal überrascht, dass er jetzt erst erkannte, dass die Rüstungen leer waren. Seine Augen wanderten umher zählten zwölf dieser bizarren Metallpanzer, die aufgrund ihrer Form keinen normal gewachsenen Menschen beherbergen konnten. Es gab gekrümmte mit spitz zulaufenden Fingern, die auf dem Boden zu schleifen schienen, bucklige mit schiefen Helmaufsätzen und grässlich verrenkten Armen und so große, dass, obgleich die Konturen menschlich waren, kein Sterblicher hineingepasst hätte. Über all diesem Unwirklichen hatte er den Earl aus den Augen verloren, der mittlerweile am gegenüberliegenden Ende des Raumes stand, so dass die Flammen die Sicht auf ihn erschwerten. Er hantierte an irgendetwas herum, was Boldwin jedoch nicht erkennen konnte. Cleggard schob den zögernden Schreiber sanft aber bestimmt in Richtung des Greises am lodernden Kamin vorbei. Die Hitze wurde schier unerträglich und der Schreiber war froh, als dieses infernalische Feuer mit den unwirklichen Flammen und den schreienden und doch stummen Gestalten hinter ihm lag. Dafür vernahm er wieder die Stimmen, lauter, als dies zuvor der Fall gewesen war; und dann war sie da - die eine Stimme, die ihn vor Angst nach Luft schnappen ließ, denn sie rief in grausamer, altvertrauter Weise: "Booldwin! Meister Schreiber! Bald hab ich dich! Warte nur..." "Keine Angst, Master Boldwin! Er kann Euch hier nichts anhaben!" Cleggard redete beruhigend auf ihn ein. Elias Boldwin war noch nicht einmal mehr überrascht, dass der bärtige Mann von der Stimme oder gar von seiner Begegnung mit dem Wesen wusste. Und wirklich wurde die Stimme des grässlichen Wesens leiser und verstummte schließlich ganz, als sie hinter den Earl traten, der ein raumhohes, arabeskenverziertes Gitter aufschloss. Umgeben von dem Gitter stand ein steinerner Sockel, auf dem eine großformatige Rolle ruhte, die im Widerschein der Flammen schwach glimmte. Der Earl hieß Boldwin nähertreten, ohne sich nach ihm umzusehen. Zögernd tat der Schreiber wie gewünscht und stellte sich neben den Greis. Hinter den Schnörkeln und verschlungenen Metall-Ranken der Absperrung stehend, bemerkte er die oval geformten Gefäße am Boden, die in einem Halbkreis um den steinernen Sockel aufgestellt waren. Welchen Sinn sie hatten, entzog sich Boldwins Kenntnis. Er blickte sich um: Cleggard war vor dem Gitter stehengeblieben und lächelte ihn wie schon so oft an; dieses Mal, mochte es am Widerschein der blauen Flammen oder an der düsteren Ausstrahlung des Ortes liegen, wirkte es eher wie ein hämisches Grinsen denn wie eine freundliche Aufmunterung. Trotz der schier atemraubenden Hitze konnte der Schreiber ein Frösteln nicht unterdrücken. Der Earl hantierte abermals mit einem kleinen Schlüssel und öffnete eine bronzene Schließe, die das fragil wirkende Schriftstück umschloss. Sodann streckte er behutsam beide Hände aus, umfasste mit der linken den aufgerollten Teil, ergriff mit der rechten den Anfang und zog sie vorsichtig zwei Spalt breit auseinander. "Seht her Master Boldwin!" Der Greis streckten einen knotigen Finger aus und wies auf eine schadhafte Stelle im Material. Die eigentliche Darstellung blieb größtenteils verborgen, so dass Elias Boldwin nur erahnen konnte, was dort eigentlich dargestellt war. Seine Augen waren auch nicht mehr die besten, obwohl er dies in Gegenwart Richards stets überspielt hatte - denn was war ein Schreiber ohne sein Augenlicht. Hier nun beugte er sich weiter vor, um die angewiesene Stelle gebührend betrachten zu können, die der Earl ihm so demonstrativ gezeigt hatte. Er erkannte zunächst die charakteristische Überkreuzstellung von Papyrus-Fasern, sodann eine abblätternde Einfärbung, die auf eine Zeichnung hinwies. Und dann... Er sah nochmals genauer hin, obgleich er schon ahnte, was für ein Detail er erkennen würde und er sich sicher war, dass er es eigentlich nicht sehen wollte - er erkannte menschliche Gebeine, an denen wolfsähnliche Gestalten nagten. Und daneben ein hierzu gänzlich unpassendes lateinisches Wort: "Jubilate" - jubelt! Irritiert und fast schon verängstigt blickte er auf. Lord Ronové starrte ihn ohne jede Regung aus kalten Augen an. "Und, Master? Kommen wir ins Geschäft?" Boldwin sah, wie Cleggard außerhalb der Absperrung wie ein Raubtier um sie schlich, den Blick unverwandt auf ihn gerichtet, lauernd, jetzt unverhohlen boshaft lächelnd. "Ich... ich hätte gerne Bedenkzeit?!" Der Alte gab wieder sein seltsam tonloses Lachen von sich. "Bedenkzeit will er haben! Habt Ihr gehört, Cleggard?!" Dieser kicherte beifällig, sagte aber nichts. "So denn", fuhr der Earl fort: "Die Sache ist ganz einfach, Meister Schreiber: Entweder Ihr übernehmt diesen Auftrag oder nicht. Falls Ihr übernehmt, soll es Euch an nichts fehlen und Ihr werdet nach Abschluss der Arbeit fürstlich entlohnt werden; sagt Ihr ab... nun ja..." Er seufzte. Statt weiter zu reden, tauschten er und Cleggard einen einmütigen Blick. Der Bärtige kam der unausgesprochenen Aufforderung nach und antwortete anstellte des Greises: "Solltet Ihr ablehnen, könnte Ihre Lordschaft dies als Undankbarkeit auslegen und die Gastfreundschaft Euch und dem Mädchen gegenüber nochmals überdenken... Schaut, diese Burganlage hat nicht nur helle, freundliche Zimmerfluchten mit luftigem Ausblick... Aber ich denke, ich brauche nicht weiterreden, oder? Ihr seid ein intelligenter Mann, Master Boldwin, sonst wärt Ihr nicht so lange unter einem Blutsäufer wie Richard in Amt und Würden geblieben!" Boldwin erfasste die Ausweglosigkeit der Situation. Gefangen so oder so. Zwar war er auch an seinem eigenen Wohlergehen interessiert, doch den Ausschlag hatte Cleggards unverhohlene Drohung gegeben, auch Mae nicht zu verschonen. Er räusperte sich. Earl Ronové verschloss die Rolle wieder, nachdem er sie behutsam zurückgedreht hatte. Cleggard blieb endlich stehen. "Also - wie lautet Eure Entscheidung?" "Ich... ich nehme den Auftrag an, Sire..." Boldwin hielt kurz inne, als ob er sich besann, dann fuhr er fort: "Ich nehme an, ich soll eine Abschrift anfertigen von... dem da?" Angewidert nickte er in Richtung der Papyrus-Rolle und dachte abermals an die dargestellte schauerliche Szene und das völlig unpassende "Jubilate!" am Rand. Der Earl legte ihm wieder seine spinnengleiche Hand auf die Schulter und geleitete ihn außerhalb der Absperrung, die er alsdann sorgfältig verriegelte. Während der Greis noch den Schlüssel umdrehte, antwortete er auf Boldwins Frage: "Ganz Recht, das sollt Ihr! Habt Ihr irgendwelche speziellen Wünsche bezüglich Eurer Werkzeuge? Ihr müsst es nur aussprechen und Cleggard wird es Euch bringen." Dieser nickte pflichtbewusst und ernsthaft, ganz ohne Andeutung eines Lächelns. Eingedenk der Ausweglosigkeit seiner Lage antwortete der Schreiber nahezu mechanisch: "Ich benötige natürlich Farbpigmente und Eisengall-Tinte. Die entsprechenden Federn und Griffel ohnedies. Und das passende Pergament. Habt Ihr da irgendwelche Präferenzen, Sire? Ich selbst bevorzuge für kostbare Abschriften Pergament aus der Haut ungeborener Kälber; nichts ist weicher und angemessener..." Sie verließen den runden Raum und damit auch die blauen Flammen mitsamt der brennenden Menschen. Während des Treppenabstiegs wiederholte der Earl beständig den letzten Satz Boldwins, ganz so, als dächte er über einen verborgenen Inhalt in diesen Worten nach. "... nichts ist weicher und angemessener..., nichts ist..." Als sie den Hof betraten ging die Sonne gerade unter. Sie hatten den ganzen Tag in dem unheimlichen Raum verbracht, so schien es Elias Boldwin! Das konnte eigentlich nicht sein, waren sie seiner festen Überzeugung nach doch erst vor einer halben Stunde nach oben gegangen. Ihn fröstelte abermals. Was für seltsame Dinge geschahen in letzter Zeit um ihn herum! Earl Ronové schlurfte ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen quer über den breiten Platz zurück in Richtung der Halle und seinem Kamin-Feuer. Die Wachen folgten in gebührendem Abstand. Cleggard blieb bei ihm und lächelte ihn wieder mit ausgesuchter Freundlichkeit an. "Sagt, Meister Schreiber, was wollt Ihr zu Abend speisen? Der Koch seiner Lordschaft ist ganz ausgezeichnet und brennt geradezu darauf, Euren Gaumen und den der jungen Dame zu verwöhnen. Boldwin zuckte die Schultern. Wenn ihm nach allem stand, so nicht nach Essen; nicht nach all den grässlichen und befremdenden Eindrücken der vergangenen Stunden. Cleggard tat, als hätte sein Gast einen Wunsch geäußert. "Also dann um acht im großen Saal. Earl Ronové wird leider verhindert sein und Ihr müsst mit mir und der jungen Dame vorlieb nehmen!" Er machte Anstalten zu gehen. Allein die Aussicht auf ein Wiedersehen mit Mae rief in Boldwin etwas Vorfreude auf das bevorstehende Essen hervor und ließ ihn aus seiner Apathie erwachen. "Ein letztes Wort, Sir! Ich bin es gewohnt, das Pergament für meine Arbeiten selbst auszusuchen, da so bereits zu Beginn viele Fehler vermieden werden können! Wo kauft Ihr für solche Zwecke ein? Vielleicht kann ich mitgehen und mich nützlich machen?" Cleggard hielt inne und drehte sich nochmals um. "Das, Master, lasst einzig unsere Sorge sein. Ihr könnt versichert sein, dass die Qualität des Materials ohne Makel sein wird!" Damit ging auch er von dannen und ließ einen verunsicherten und besorgten alten Mann zurück.


Das FragmentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt