Zwei

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 Ich saß in meinem Zimmer und lernte für die Klausur am nächsten Morgen.
Nach einer Stunde legte ich die Bücher weg, klappte meinen Laptop auf und loggte mich bei Facebook ein. Vier neue Freundschaftsanfragen, zwei Nachrichten und ein paar unwichtige Benachrichtigungen, zum Teil aus der Uni Gruppe. Ich öffnete meine Nachrichten. Einmal schrieb mir Selma und einmal irgendein Typ aus der Uni wie „Geil" er mich findet und ob man mich nicht kennenlernen kann.

Nichts neues eigentlich, sowas kam öfter mal vor. Facebook eben. Ich ging nie darauf ein.
Selma hatte mir vor einer Stunde geschrieben.

„Off Sibel, lernen ist so behindert! Komm und rette mich."

Meine Finger tippten eine Reihe Lachsmileys ein. Sie war online und schrieb sofort zurück.

„Lach nicht ya! Wetten du Streber bist schon fertig mit lernen und gammelst jetzt auf Facebook herum."
„Ja und Nein. Bin zwar fertig mit lernen aber ich wollt nur kurz reinschauen ..." 
„Um Tolga zu stalken oder?!"


Ihre Nachricht kam eingeflogen, bevor ich den Rest des Satzes abschicken konnte. Ich schmunzelte. 

„Nein. Ich will gleich schlafen, es ist schon spät."

Ich öffnete meine Freundschaftanfragen und traute meinen Augen nicht. Es waren vier Typen, aber nur einer interessierte mich. Tolga Türkmen. Mein Herz begann zu rasen. Sofort schrieb ich Selma. 

„Omg Omg, Tolga hat mir eine Fa geschickt." 

Alles was von ihr kam war „Aha."
Sie ärgerte mich gern damit, weil sie wusste, dass ich das Wort über alles hasste.

„Soll ich annehmen?" , fragte ich.
„Wieso frägst du mich, du nimmst doch eh an."

Sie hatte Recht. Ich hatte nicht einen Augenblick daran gedacht, die Freundschaftsanfrage abzulehnen.
Ich nahm an und ging erst einmal seine Bilder durch. Ein Kribbeln machte sich in meiner Bauchgegend breit. Mein Gott, wie hübsch er war! Seine Chronik war zugespammt mit Herzchen und Küsschen, die ihm irgendwelche Mädchen posteten. Ich wurde schlagartig eifersüchtig. Nach einer Weile schrieb Selma mir erneut.

„Und?"

„Ich hab angenommen ... seine ganze Chronik ist voller Herzen."
„Was haste denn erwartet? Der hat jede Woche ne andere, die Mädels stehen Schlange." 

Wie auf Knopfdruck verging mir die Lust zum Schreiben. Meine Laune jagte geradewegs den Keller hinunter. Ich verabschiedete mich von Selma und klappte meinen Laptop zu. Enttäuscht warf ich mich aufs Bett. Ein tiefer Seufzer entrang sich mir. Ich versuchte  mir einzureden, dass es mir egal war. Ich redete mir ein, dass die Anfrage nichts zu bedeuten hatte. Auf Facebook ist schließlich jeder mit jedem befreundet.
Und trotzdem machte ich mir Hoffnung auf mehr ...

Am nächsten Morgen saß ich auf einer Bank am Campus und wartete auf Selma. Wir hatten Ende März, es war noch recht kalt und da ich etwas früh dran war, beschloss ich drinnen weiter zu warten. Ich steckte mein Handy in meine Tasche und wollte gerade aufstehen, als mir jemand auf die Schulter tippte. Ich sah hoch. Mein Herzschlag setzte aus. Tolga! Sein Lächeln verwirrte mich. Er streckte mir seine Hand entgegen.

"Hey", sagte er. 

Seine Stimme vernebelte meine Sinne. Nach einen kurzen Augenblick, an dem ich wie versteinert da stand, schaffte ich es irgendwie ihm meine Hand zu reichen. Die kurze Berührung löste eine unbeschreibliche Wärme in mir aus. 

„Hi", antwortet ich ein wenig verlegen.
Ich spürte, wie ich Rot anlief. Mein Gott, war das peinlich! Ich wollte im Erdboden versinken. 

„Ich bin Tolga und du bist Sibel", sagte er.

Ich lachte. Bevor ich überhaupt irgendwas antworten konnte, fuhr er fort.

„Haste Lust mal was mit mir trinken zu gehen, Sibel? Würde dich gerne näher kennenlernen."

Ich traute meinen Ohren nicht ... war das auch wirklich kein Traum?  Ich war so überrascht und glücklich zugleich, dass ich vollkommen vergaß zu antworten. 

„Also?", hakte Tolga nach. 
„Ich ähm ... ja klar, wieso nicht."
„Super, ich schreib dir dann heute Abend auf Facebook, dann können wir gucken, wann das klappt."

Er lächelte. Und, oh Gott, dieses Lächeln ließ mich förmlich schmelzen! Was für ein Mann!
Nachdem er ging, stand ich noch einige Minuten wie betäubt da. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Als ich ins Gebäude ging, fiel mir ein Zettel an der Tür auf.

„Klausur fällt aus, verschoben auf nächste Woche."

Na toll, dann war ich also umsonst gekommen. Sofort musste ich grinsen - Tolga. Ganz so umsonst, war es also doch nicht gewesen. Ich nahm mein Handy aus der Tasche und rief Selma an.

„Canim, wo bist du?", fragte ich.
„Bin eben aus dem Haus, in 20 Minuten bin ich da."
"Nein, komm nicht, Klausur wurde verschoben."
 "Was? So ein Scheiß! Was machst du heute?"
„Ich muss dir dringend was erzählen, aber am Handy ist schlecht. Ich komm heute Mittag vorbei, tamam?"
„Tamam, bis nachher canim."

Auf den Weg nach Hause machte ich noch einen Zwischenstop bei Starbucks und holte mir einen Coffee to go. Ich lief langsam und träumte vor mich hin. Mir ging Tolga einfach nicht aus dem Kopf.

„Hey, pass doch auf wo du hinläufst", rief ich genervt. 

Mein Becher fiel zu Boden. Irgendein Idiot hatte mich angerempelt.

„Verdammt. Tut mir leid, mein Fehler. Ich war schon so lange nicht mehr hier und hatte mich grad umgeschaut."
„Schon okay, ich war auch grade in Gedanken", antwortete ich.
„Wie kann ich das gut machen?", fragte der Unbekannte. „Darf ich dich auf ein Caffee einladen?"
„Nein, darfst du nicht. Ich hab doch gesagt, dass es okay ist." 

Meine Antwort war ein wenig schroff, aber er ließ nicht locker.

„Hast du schon was vor? Wie ist dein Name?"
„Gisela", antwortete ich.
 Er lachte. 
„Alles klar, bis zum nächsten Mal Gisela", rief er mir hinterher, als ich schon weiter ging. 
Ich drehte mich noch einmal um.
„Woher willst du wissen ob es ein nächstes Mal gibt?"
Er lächelte und legte seine Hand auf die Brust.
„Mein Herz weiß es."
Ich versuchte mein Lachen zu unterdrücken, was mir nicht wirklich gelang.
„Komischer Kerl", dachte ich mir und lief nach Hause.


Emre: 

„Schwesterherz!"
„Abicim!"

Selma und Ich fielen uns in die Arme. Ich drückte meine kleine Schwester fest an mich. 

„Abi (Bruder), ich hab gedacht, du kommst erst nächste Woche?"
„Hatte ich auch vor, aber ich halt es mit Papas neuer Frau nicht mehr aus. Außerdem hab ich jetzt eine Woche Zeit, um mich wieder richtig einzuleben hier, bevor ich mein Studium fortsetzte."

Nach der Trennung unserer Eltern vor 10 Jahren zog ich mit meinem Vater nach München. Ich  traf mich zwar regelmäßig mit meiner Mutter und meiner Schwester, aber in Hamburg war ich seit der Trennung nicht mehr. Ich hatte .ich dazu entschieden, mein Studium hier fortzusetzen, zumal das Verhältnis zu meinem Vater, nach dessen erneuter Heirat, nicht gerade das Beste war. 

„Annem nerde (Wo ist Mama)?", fragte ich.
„Auf der Arbeit, ich hatte heute eigentlich eine Klausur, aber die wurde verschoben."

Wir setzen uns in die Küche, tranken Cay (Tee) und unterhielten uns.

„Glaubst du an Liebe auf den ersten Blick?", fragte ich nach ein paar Minuten. 

Die Frage kam so unerwartet, dass Selma sich an ihrem Tee verschluckte.

„Wie kommst du denn jetzt darauf?"

Es dauert einen Moment bis ich antwortete.

„Ich hab auf den Weg hierher ein Mädchen angerempelt und sie war so traumhaft!"
„Du hast sie angerempelt?" 

Wir lachten.
„Ja, keine Ahnung auf jeden Fall war sie ... oh man, mir fehlen die Worte."
„Vay Vay, ist Bruderherz etwa verliebt?", neckte Selma mich. 

Bevor ich antworten konnte, klingelte es an der Tür.

„Erwartest du jemanden?", fragte ich.
„Ach, das ist sicher nur Sibel, die wollte heute vorbei kommen."

Kurz darauf hörte ich aufgeregte Stimmen im Flur. 

„Oh mein Gott Selma, Tolga hat mich nach nem Date gefragt und ich -"

Sie beendete ihren Satz nicht, blieb stattdessen wie angewurzelt an der Küchenschwelle stehen. 

„Noldu canim?", fragte Selma sie.

Ich stand auf und starrte Sibel an. Mein Gehirn versuchte zu realisieren.

„Ahh sorry", rief Selma auf einmal. "Canim, das ist Emre, ich hab dir ja erzählt, dass er demnächst herzieht. Abi, das ist Sibel. Ich kann nicht glauben, dass es schon zehn Jahre her ist, seit ihr euch das letzte Mal gesehen habt."  

Ich schluckte schwer ... 

Liebe mit HindernissenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt